Herzlich Willkommen!
Vorweg Sie sind als Sozialarbeiter, Arzt, Pfleger, Therapeut, Psychologe, Seelsorger oder Laienhelfer im Suchtbereich tätig? Sie beschäftigen sich als Wissenschaftler mit dem Thema Sucht? Oder Sie kümmern sich außerhalb der Suchthilfe um Angehörige und Kinder von Suchtkranken, vielleicht als niedergelassener Arzt oder Psychotherapeut, als Bewährungshelfer oder als Pädagoge in der Jugend- und Familienhilfe? An Sie richtet sich das vorliegende Buch vordringlich. Die heutige Suchthilfe, -prävention und -forschung ist eingenommen von dem Süchtigen und seinen Suchtmitteln. Dieses Buch ist dagegen ausschließlich den Angehörigen und ihrem Leiden gewidmet. Ich möchte Sie einladen, eine neue und ganzheitlichere Perspektive von (Co-)Abhängigkeit zu gewinnen. Auch werden sich Ihre Selbstsicht und Ihr Selbstverständnis als Suchthelfer verändern. Ihr persönliches co-abhängiges Risiko als professioneller Helfer wird aufgedeckt und hinterfragt. Obendrein wird Ihre Sicht geschärft, inwieweit Ihre Arbeitsstelle und Einrichtung in den Strukturen und Arbeitsabläufen co-abhängig verstrickt ist und wie Sie diesen institutionellen Verstrickungen durch geeignete Maßnahmen begegnen können.Sie sind neugierig und wollen sich über Sucht und Abhängigkeit informieren, vielleicht weil Sie gerade als Lehrer eine Unterrichtsreihe zum Thema Sucht vorbereiten, weil Sie als Pastor einen Suchtfall in Ihrer Gemeinde haben, weil Sie als Politiker oder Funktionär Einfluss nehmen wollen und an Entscheidungen beteiligt sind oder vielleicht weil Sie einen Freund, Kollegen oder Nachbarn haben, der Ihnen   wegen Suchtproblemen aufgefallen ist? Lesen Sie weiter, Sie werden fündig werden. Dieses Buch bietet Ihnen Informationen und eine Perspektive von Sucht, die Sie nur schwer woanders finden werden. Das Thema Co-Abhängigkeit ist erstaunlicherweise selbst unter Suchtfachleuten recht unbekannt.Sie waren selber süchtig? Auch Ihnen möchte ich die Lektüre dieses Buches empfehlen. Den ersten Schritt aus der Sucht heraus, Ihren Konsum oder Ihr Suchtverhalten einzustellen, haben Sie vermutlich schon geschafft, sonst hätten Sie dieses Buch nicht in die Hand genommen. Aber haben Sie den zweitwichtigsten Schritt schon unternommen, nämlich nicht mehr ausschließlich um das eigene Selbst zu kreisen? Teil einer Suchtstörung ist es, dass man nur sich selber sieht, andere Menschen manipuliert und für die eigenen süchtigen Interessen einspannt. Lesen Sie bitte weiter. Die Lektüre wird Ihre soziale Wahrnehmung schärfen und Ihr Mitgefühl für die Menschen um Sie herum vertiefen. Ein wohlgemeinter Ratschlag: Sparen Sie sich jegliches schlechtes Gewissen! Schuldgefühle sind nur der Höhepunkt der süchtigen Selbstbezogenheit. – Sie haben Ihre Schuld schon durchgearbeitet? Noch besser! Dann sind Sie offen für die Angehörigenthematik.Sie haben als Kind, Partner, Eltern,   Kollege oder Freund unter der Suchterkrankung eines Ihnen nahestehenden Menschen gelitten oder leiden noch? Angst, Scham, immer wieder zerstörte Hoffnung und Enttäuschung, Ohnmacht, Verdruss, Verzweiflung und Verbitterung – man kann Ihrem Leiden viele Namen geben. Sie wollen dem Sucht-kranken gerne helfen, machen sich viele Gedanken, wie Sie dem geliebten Menschen aus der Sucht helfen können, oder Sie haben sich bereits vielfältig gekümmert und alles Menschenmögliche unternommen. Sie wissen irgendwie nicht mehr weiter und sind verzweifelt. Trifft das weitgehend auf Sie zu, dann ist das vorliegende Buch Ihnen gewidmet. Dieses Buch kümmert sich solidarisch und ausschließlich um Ihre Belange als Angehörige eines suchtkranken Menschen.Einleitung Von Frosch, Prinzessin, Hoffnung und Küssen Sie kennen das Märchen vom Froschkönig, und vielleicht haben Sie schon davon gehört, dass dieser Text gerne als Illustration für Sucht genutzt wird? Der nasse, dicke und hässliche Frosch symbolisiert den Süchtigen. Er verlangt für eine Kleinigkeit, nämlich die Goldkugel aus dem Brunnen zu holen, alles von der Prinzessin: am Tischlein sitzen, vom goldenen Tellerlein essen, aus dem Becherlein trinken und zu guter Letzt mit ins Bett wollen. Dies entspricht den Lebensmustern von Süchtigen, die Verantwortung für die eigene Person und das eigene Leben nicht anzunehmen. Süchtige sind ständig und ausschließlich mit ihren Suchtbedürfnissen und -interessen beschäftigt. Die sonstigen Lebensangelegenheiten vernachlässigen sie, bzw. gewöhnlich gibt es Menschen in ihrem Leben, die sich stellvertretend darum sorgen und kümmern.In dem Märchen sind diese anderen Menschen vor allem durch die Rollen der Prinzessin, aber auch ihres Vaters, des Königs, vertreten. Der Königsvater ist streng mit der Prinzessin und verlangt von ihr, dass sie halten muss, was sie verspricht, gleichgültig, wie absurd das Versprechen ist. Folgsam lässt sie den Frosch bei sich sitzen, von ihrem Tellerlein essen, aus ihrem Becherlein trinken und nimmt ihn mit auf ihr Zimmer. Erst als der Frosch das Letzte verlangt, nämlich mit ins Bett zu dürfen, widersetzt sie sich mutig und zornig dem väterlichen Gebot, überwindet ihren ganzen Ekel und Widerwillen, packt den süchtigen Frosch und wirft ihn mit ihrer ganzen Wut und Verzweiflung an die Wand. Die Prinzessin befreit sich dadurch von den süchtigen Ansprüchen des Frosches und von der Bevormundung durch den Königvater. Durch die mutige Tat entkommt sie der Enge und dem Gefängnis des Lebens am königlichen Hof und beginnt ein neues, aufregendes und eigenes Leben.Kennen Sie auch die co-abhängige Version des Märchens? Die Geschichte ist schnell und unprätentiös erzählt.Die co-abhängige Version vom Froschkönig Eine Prinzessin trifft auf einen Frosch, und da sie das Märchen vom Froschkönig kennt, denkt sie sich, dass der Frosch ein verwunschener Prinz sein muss. Sie nimmt den Frosch und küsst ihn voller Hoffnung und Sehnsucht und wird selber zur Fröschin. Diese Geschichte ist bitter, und man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. Nichtsdestotrotz ereignet sie sich täglich millionenfach. Dieses Buch behandelt die Lebensrealität und das Leiden von Millionen Angehörigen. Um es in der Symbolsprache des Märchens auszudrücken, geht es um Menschen, die den Frosch immer wieder sehnsüchtig küssen, in der Annahme, dass er ein verwunschener Prinz sei, und die täglich in ihrer falschen Hoffnung betrogen und enttäuscht werden. Dieses Buch behandelt aber auch die gesunde Hoffnung auf Heilung bzw. die Chance der Selbstbefreiung, den Frosch an die Wand zu werfen, die Co-Abhängigkeit zu überwinden und das Abenteuer eines eigen en Lebens zu wagenVon gesellschaftlicher Routine undverkappter MenschlichkeitDas Suchtthema, so ist mein Eindruck, ist in den letzten zwei Jahrzehnten zur gesellschaftlichen Gewohnheit geworden. Gewiss nicht zu einer liebgewonnenen Gewohnheit, mehr zu einem »angeheirateten Familienmitglied« der Gesellschaft – die Schwester oder Tochter hat halt so einen dicken, hässlichen Frosch geheiratet –, dessen Teilnahme an Familienfeierlichkeiten man wohl oder übel erdulden und über sich ergehen lassen muss. Niemand empört oder entrüstet sich über das Suchtthema mehr großartig. Die in der Öffentlichkeit gezeigte Aufregung ist nur Teil eines altbekannten Schauspiels, das bei seiner Erstaufführung vor vielen Jahren ein großer Skandal war, heute aber jeder in- und auswendig kennt und niemanden mehr vom Hocker reißt. Niemand regt sich auf, wenn Personen des öffentlichen Lebens durch Suchteskapaden auffallen. Die Medien schlachten es quotenträchtig aus, und der »Marktwert« der Person wird in den meisten Fällen noch gesteigert. Auch über allabendliche, öffentliche Saufgelage in Innenstädten und Parkanlagen regt sich niemand mehr großartig auf. Sie gehören zur gesellschaftlichen Normalität dazu. An die Drogenplatte in den Innenstädten hat man sich auch irgendwie längst gewöhnt, wie der Gartenbesitzer akzeptiert hat, dass Unkraut nicht vergeht. Also wird dem Kraut sein Platz gewährt. Den jährlichen Drogenbericht der Drogen-beauftragten der Bundesregierung nimmt man fachkundig zur Kenntnis bzw. lässt ihn als sozial gewissenhaftes Mitglied der Gesellschaft über sich ergehen, wie auch das ungeliebte Familienmitglied auf Familienfeiern geduldet wird. Und regelmäßig registriert man routiniert die neuesten Schreckensmeldungen irgendwelcher Suchtverbände oder Forschungsstätten:Die allerneueste Sensation über Sucht im 36. Aufguss Das Einstiegsalter für Droge X ist wieder gesunken; männliche Mi-granten der dritten Generation ohne Schulabschluss sind besonders durch Droge Y gefährdet; das Einstiegsalter der Droge Z bei Hartz-IVempfangenden, milieugeschädigten Jugendlichen sinkt weiter; starke Zunahme des Suchtverhaltens XYZ bei jungen Frauen; das Geheimnis der Sucht ist gelöst: die Uni A hat das Suchtgen entdeckt; das Geheimnis der Sucht wurde gelüftet: das Institut B fand heraus, dass Sucht hormonell bedingt ist; der Suchtverband C warnt davor, dass die Wirtschaftskrise und die damit verbundene individuelle Perspektivlosigkeit die Voraussetzungen für eine Verschärfung der Suchtprobleme schafft … Allein das Magersuchtthema junger Models hat in den letzten Jahren für ein wenig Wirbel und Schlagzeilen gesorgt. Doch wohl kaum wegen der Suchtthematik und der tragischen Folgen im Einzelfall. Im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit standen vielmehr die Bilder mehr oder weniger unbekleideter junger Frauen. Das Sexappeal einer Frau wird durch ein wenig (magersuchtbedingte) Hilflosigkeit und Wehrlosigkeit immens gesteigert. Alte Blondinenmasche! Profitiert haben von der öffentlichen Debatte und Aufmerksamkeit die Werbebranche und die durch die Models beworbenen Produkte, nicht aber die seriöse Suchthilfe, die sich um magersüchtige Frauen kümmert.Das war früher anders. In den 70ern und 80ern des letzten Jahrhunderts war die wachsende Drogensucht ein großes kontroverses Thema. Es wurde gesellschaftlich, politisch und fachlich heftig gestritten. Und Anfang der 90er wurde die Kontroverse nochmals bezüglich des um sich greifenden Ecstasy- und Partydrogengebrauchs neu entfacht. Die Kontroverse war geprägt durch die Ambivalenz zwischen dem Bedarf nach Hilfe, Beratung und Behandlung von kranken Menschen auf der einen Seite sowie der Notwendigkeit auf der anderen Seite, Sucht- und Drogenkonsum mit gesetzgeberischen, ordnungspolitischen und polizeilichen Mitteln einzuschränken. Entsprechend der gesellschaftlichen Ambivalenz entwickelten sich Hilfestrukturen, die gleichermaßen soziale Hilfeleistungen anboten, aber auch den Betroffenen Eigeninitiative und Vorleistungen abverlangten.Das Suchtthema benötigt, davon bin ich überzeugt, Auseinandersetzungen im Sinne von öffentlichkeitswirksamer Provokation und gesellschaftlichen Streits. Der gesellschaftliche und individuelle Nährboden von Sucht ist Gewöhnung, Resignation und ein Zuviel an Menschlichkeit und Hilfe, das die süchtige Verantwortungsvermeidung und -delegation fördert. Unsere heutige suchtroutinierte, aber ratlose Gesellschaft ohne Streit und Hader hat vor dem Suchtproblem kapituliert und agiert co-abhängig. Es wird dem Süchtigen gesellschaftlich geboten, was dieser in seiner Sucht wünscht, nämlich in Ruhe konsumieren bzw. dem Suchverhalten nachgehen zu können.Um auf das Märchen vom Froschkönig zurückzukommen, gilt es heute als unmenschlich bzw. ist es ein Tabu, den Frosch an die Wand zu werfen. Den Frosch immerzu sanft zu küssen, gilt als menschlich und sozial. An die Stelle des absurden Gebots des Königvaters im Märchen »Was du versprochen hast, musst du auch halten!« ist die allgemein akzeptierte, humane Moral bzw. das gesellschaftliche Tabu getreten: »Nicht zu helfen ist unmenschlich!« Die co-abhängigen Folgen des Tabus sind, dass der Frosch nicht nur am Tischlein sitzen, vom Tellerlein essen und aus dem Becherlein trinken darf, was an sich in Ordnung ist, sondern dass – im übertragenen Sinn – dem Frosch die feuchte Nachtruhe bzw. der Beischlaf mit der Prinzessin gewährt und die Prinzessin der maßlosen Begierde des Frosches geopfert wird.Abhängigkeit ist ein soziales System Der Begriff Abhängigkeit beschreibt und bewertet ein System von Menschen und ihren Beziehungen. Im Fokus des Abhängigkeitssystems steht der Süchtige, passend auch als Symptomträger bezeichnet. Um den Symptomträger gruppiert sich stets eine Anzahl von Menschen, die unter der Sucht leiden und die dem Süchtigen helfen wollen. Das sind Eltern, Partner, Kinder, Kollegen, Freunde, auch Therapeuten, Sozialarbeiter, Ärzte, Pastoren etc. Im Märchen vom Froschkönig sind, wie gesagt, die Angehörigen durch die Rolle der Prinzessin, aber auch durch die Figur des Königvaters repräsentiert.Aus dieser systemischen Sicht kennzeichnet die Diagnose Sucht immer ein abhängig verstricktes Beziehungsgefüge. Ich ziehe den Begriff der Abhängigkeit vor, da er klarer diese soziale Beschaffenheit benennt. Abhängigkeit besteht nicht nur zwischen dem Süchtigen und seinem Suchtmittel oder Suchtverhalten, sondern auch zwischen dem Süchtigen und seinem sozialen Umfeld. Diese systemische Sicht ist nicht neu, vielmehr stellt sie heutzutage einen Allgemeinplatz in der Suchthilfe und -forschung dar, und niemand wird diese Erkenntnis ernsthaft infrage stellen wollen.Doch ich möchte behaupten, dass die soziale Beschaffenheit von Sucht bis heute in der Suchtpolitik, -hilfe, -prävention und -forschung nicht bzw. nur absolut unzureichend berücksichtigt wird. Alle fokussieren und kümmern sich um die süchtigen Symptomträger, kaum einer beachtet, geschweige denn kümmert sich um die ebenfalls betroffenen Angehörigen. Sie werden allenfalls mitbehandelt, ansonsten aber übersehen, missachtet und vergessen. Ein prägnantes Beispiel für die Marginalisierung und Missachtung der Angehörigenthematik bietet die Homepage der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS).Von der Suche im Heuhaufen Auf der umfangreichen Homepage der DHS (www.dhs.de, Nov. 2009) findet man tatsächlich Hinweise auf die Problematik von Angehörigen bzw. Informationen über Co-Abhängigkeit. Das ist zunächst einmal positiv zu würdigen. Doch muss man lange und ausdauernd suchen, bis man fündig wird. Unter den vier wichtigen Rubriken Daten und Fakten, Suchtstoffe/-verhalten , Stellungnahmen und Einrichtungssuche habe ich nichts zum Angehörigenthema finden können, aber vielleicht habe ich nur zu oberflächlich geschaut.In der Rubrik Infomaterial hatte ich drei erfreuliche Treffer. Drei sehr gut gemachte Broschüren, allerdings waren diese ganz unten an 33.,34. und 39. Stelle platziert. Nur weil ich ausdauernd und aufmerksam seitenlang nach unten gescrollt habe, bin ich auf die Broschüren gestoßen.Im Jahr 2000 schon schrieb der damalige Geschäftsführer der DHS Hüllinghorst in einem Zeitschriftenartikel zum Thema Angehörigenarbeit (S. 42): »Was aber das Wichtigste ist: Wir müssen uns insgesamt lösen von der Fixierung auf den oder die Missbraucher/in, die oder den Abhängige/n. … Auf der anderen Seite müssen wir immer wieder dafür kämpfen, dass auch Angehörige die Hilfe bekommen, die erforderlich ist.« Aus ganzem Herzen stimme ich Hüllinghorst in seinem kämpferischen Anspruch zu, aber die Internetrepräsentanz der DHS erfüllt dieses Ziel auch neun Jahre später nicht.Falls die Angehörigen doch Beachtung erfahren, werden sie heute üblicherweise nur als Anhängsel der Suchtkranken berücksichtigt und mitbehandelt, wie die folgenden Beispiele aufzeigen.Wie Angehörige als Mittel zum Zweck funktionalisiert werden 1. Das folgende Zitat habe ich exemplarisch von der Homepage einer Suchtberatungsstelle entnommen: »Co-Abhängigkeit – Definition: Die lateinische Silbe ›Co‹ bedeutet ein Miteinander bzw. Nebeneinander. Co-Abhängigkeit bezeichnet ein Bündel aus typischen Persönlichkeitsmerkmalen, Verhaltensweisen, Einstellungen und Gefühlen, welches im Zusammenleben mit einer suchtmittelabhängigen Person deren Krankheit unterstützt. Anders ausgedrückt: Co-abhängig sind Verhaltensweisen von Bezugspersonen des Suchtmittelabhängigen, die geeignet sind, seine süchtige Fehlhaltung zu unterstützen und eine rechtzeitige Behandlung zu verhindern.«2. Aßfalg (2009) drückt es schon im Titel seines Buches »Die heimliche Unterstützung der Sucht« unmissverständlich aus: Angehörige sind mitschuldig, Sucht zu fördern und aufrechtzuerhalten. In der Einleitung reflektiert der Autor, dass diese anklagende Haltung beabsichtigt ist: »Der Titel drückt einen Vorwurf aus: … Das klingt nach verstohlener Komplizenschaft, verdeckt hinter der Fassade scheinbar fürsorglichen Helfenwollens.« (S. 9)3. Das Community-Reinforcement-Ansatz-basierte Familien-Training, kurz CRAFT, stammt aus den USA (Meyer & Smith, 2009). Es soll ein neues, auf empirisch wissenschaftlichen Grundlagen entwickeltes verhaltenstherapeutisches Therapiemanual für Angehörige sein. Doch erklärtes Hauptziel des Programms ist die Verringerung des Suchtmittelverbrauchs und die Förderung der Therapiemotivation der Suchtkranken. Umfassend wird auf mehreren hundert Seiten erklärt, wie die Angehörigen zu Co-Therapeuten ausgebildet werden, um therapeutisch auf die Suchtkranken einzuwirken. Der Problematik der Angehörigen ist eine halbe Seite gewidmet (S. 264 – 265). Der Begriff der Co-Abhängigkeit wird durch die Autoren als Stigmatisierung und Pathologisierung der Angehörigen gänzlich abgelehnt 1 .Lange Zeit habe ich als Suchttherapeut, der nur sein süchtiges Klientel im Sinn hatte, Co-Abhängigkeit ähnlich verstanden. Durchaus ist die Einschätzung, dass Angehörige die Sucht ungewollt unterstützen, oftmals richtig. Doch missbillige ich mittlerweile ausdrücklich die darin enthaltene Pauschalisierung und Verurteilung der Angehörigen. Ihnen sogar Komplizenschaft zu unterstellen, ist von Aßfalg (2009) als eine wohlwollende Provokation gemeint, die ich aber für misslungen halte. Ich habe niemals co-abhängige Angehörige kennengelernt, die die Sucht – bewusst oder unbewusst – beabsichtigt gefördert haben, außer die Angehörigen litten selber unter einem Suchtproblem.Schließlich beschäftigen sich die Autoren viel zu sehr mit den Auswirkungen des Angehörigenverhaltens auf die süchtigen Symptomträger und deren Konsum. Eine solche auf den Suchtkranken zentrierte Sichtweise degradiert die Angehörigen zum sozialen Anhängsel der Süchtigen. Die Angehörigen werden als Mittel zum Zweck funktionalisiert, indem sie allein deswegen (mit-)behandelt werden, um den Therapieerfolg der süchtigen Klientel zu erhöhen. Ich nenne diese heute weit verbreitete Sichtweise suchtzentriert , um sie von meiner und von nur wenigen Autoren und Fachleuten eingenommenen angehörigenzentrierten Sichtweise abzugrenzen. Selbstverständlich ist es richtig, die Angehörigen in die Therapie der Süchtigen einzubeziehen, um die Wirksamkeit von Suchttherapien zu steigern. Doch sollte man erwarten, dass in der Behandlung der Angehörigen ihr Leiden und Hilfe-bedarf an erster Stelle stehen.Auf dieser Kritik beruhen die zwei zentralen Thesen und Botschaften des vorliegenden Buches. Co-Abhängigkeit ist erstens eine eigenständige psychosoziale Problematik. Nicht selten entwickelt sich aus dem Zusammenleben mit einem Süchtigen eine ernsthafte psychische Störung, die ich Co-Abhängigkeitssyndrom nenne und die eine verhaltensbezogene Suchtform darstellt. Angehörige, die sich co-abhängig verstrickt haben oder aber co-abhängig erkrankt sind, haben dementsprechend einen eigenen Anspruch auf angemessene Beratung und Behandlung. Co-Abhängigkeit ist zweitens auch eine institutionelle und gesellschaftliche Problematik, insofern das Leiden, die Probleme und der Hilfebedarf der Angehörigen durch unsere Gesellschaft und konkret durch die Suchthilfe bagatellisiert und missachtet werden.Vom stillen Funktionieren und vergessenen Leiden Angehörige sind de facto die größte von Sucht und (Co-)Abhängigkeit betroffene Gruppe. Um jeden Süchtigen gruppieren sich gewöhnlich mehrere Angehörige und leiden unter dem Auf und Ab der Sucht. Schätzungen sprechen von fünf bis acht Millionen Betroffenen. Ich bin überzeugt, dass die Zahlen das wahre Ausmaß der Problematik deutlich unterschätzen. Genauere, zuverlässige und gültige empirische   Daten existieren bedauerlicherweise nicht, wi e es auch sonst zu dem Thema kaum Information, Austausch und Forschung gibt. Angehörige haben keine Lobby, ihr Leiden passiert im Stillen, und ihre Störung stört niemanden. Saufgelage auf der Straße, Lungenkrebs, Spritzenfunde auf dem Spielplatz, kotzende junge Mädchen oder fast zu Tode gehungerte, halbnackte Models haben mehr Appellcharakter als die erschöpfte Frau eines Süchtigen, die sich um ihn und die Kinder kümmert, den Haushalt schmeißt und nebenbei noch arbeitet und Geld verdient.Die Angehörige leidet im Stillen, ohne es ausdrücken zu können. Sie verbirgt ihre Erschöpfung und Verzweiflung und fordert keine Hilfe ein. Stattdessen hält sie gegenüber Freunden, Familie und Nachbarn den Schein der glücklichen Familie und der heilen Welt aufrecht. Sie funktioniert, was ein essenzieller Teil ihrer Problematik ist. Das ist nun keineswegs anstößig, mitleiderregend, amüsant oder sogar sexy, sondern alltäglich, farblos, monoton und trist. Mit der Angehörigenthematik sind keine medialen Auflagen oder Quoten zu erzielen, und ohne die mediale Aufmerksamkeit kann sich heutzutage keine durchsetzungs   fähige Lobby bilden.Teil einer Abhängigkeitserkrankung ist es, dass die Betroffenen ihre Erkrankung zumeist bagatellisieren und verleugnen und infolgedessen nicht aktiv um Hilfe ersuchen. Deswegen sind in der Suchthilfe niedrigschwellige und aufsuchende Hilfemaßnahmen die Methoden der Wahl.Die Angehörigen verleugnen ebenso ihr Leiden, ihre familiäre Problematik und ihre Hilfebedürftigkeit. Das ist ein wesentliches Merkmal oder Symptom einer co-abhängigen Verstrickung. Auch die Angehörigen brauchen niedrigschwellige und aufsuchende Hilfeangebote.Dabei ist die co-abhängige Problematik keineswegs neu. In den 80ern des letzten Jahrhunderts gab es eine Reihe von Veröffentlichungen zu dem Thema. Bücher wie »Co-Abhängigkeit, die Sucht hinter der Sucht« von Anne Wilson Schaef (1986) oder »Verstrickt in die Probleme anderer, über Entstehung und Auswirkung von Co-Abhängigkeit« von Pia Mellody (1989) beschrieben die co-abhängige Problematik und Störung genau und umfassend und erzielten in den USA Millionenauflagen. Die Thematik schwappte über den Großen Teich und wurde auch im deutschsprachigen Raum in Fachkreisen diskutiert. Manche Suchtberatungsstelle nahm den Begriff der Angehörigen als Anhängsel in ihren Einrichtungstitel auf (»Suchtberatung für Suchtkranke und ihre Angehörigen«), und es wurden wohlfeile Forderungen von Fachmenschen, Verbänden und Politik gestellt. Doch konkrete Folgen in Form der Einrichtung und Finanzierung von angemessenen Hilfestrukturen für die Betroffenen oder einer systematischen Erforschung der Angehörigenthematik hatten die Diskussionen nicht. Die Fokussierung der Suchthilfe auf die Süchtigen und die Missachtung der Angehörigen und ihres Leidens ist eine institutionelle Form der Co-Abhängigkeit. Eine Kollegin aus der Suchthilfe drückte es, begleitet von einem Schulter-zucken, lakonisch so aus: »Kein Geld!«Wenn ich mir dies vergegenwärtige, spüre ich Trauer und Wut, zwei lebensbejahende Gefühle, die Co-Abhängige typischerweise unterdrückt und abgespalten haben. Ich habe diesen zugegeben etwas provokativen und leidenschaftlichen Start ins Thema gewählt, um Sie ein Stück zu emotionalisieren, denn in der Behandlung der Co-Abhängigkeit geht es leider nicht um zärtliches Wachküssen. Vielmehr geht es um:- aufrütteln - wütend werden - zur Tat schreiten - sich überwinden - den Frosch in die Hand nehmen und an die Wand schmeißen - die Lebenslust wieder spüren - das eigene Leben wieder aufnehmen - schreien, weinen und laut lachen.Was ist Co-Abhängigkeit? Darum genau wird es in diesem Buch gehen, doch möchte ich Ihnen vorweg eine vorläufige Definition geben. Co-Abhängigkeit ist ein vielschichtiges, individuelles und soziales Phänomen. Es ist die andere Seite der Medaille der Sucht. Co-Abhängigkeit ist durch das gefühlsmäßige, gedankliche und verhaltensmäßige Eingenommensein von der Sucht eines anderen, nahestehenden Menschen gekennzeichnet. Die betroffene Person ist von dem übermäßigem Wunsch, die Sucht des anderen zu kontrollieren und den Süchtigen zu retten, beherrscht. Co-Abhängigkeit ist außerdem verbunden mit starken Scham- und Schuldgefühlen, für die Sucht des anderen verantwortlich zu sein. Die Scham macht sprachlos. Aus Scham schweigt die betroffene Person oder bagatellisiert und verleugnet die Sucht des anderen. Der Schein der heilen Welt wird um jeden Preis gewahrt, die betroffene Person strampelt sich jeden Tag aufs Neue dafür ab.Co-Abhängigkeit bedeutet, im Stillen zu leiden, ohne Hilfe und Beachtung einzufordern und darüber hinaus tagtäglich in der eigenen Not durch den Süchtigen und andere Personen, die sich nur um den Süchtigen kümmern, abgewertet und missachtet zu werden. Von Co-Abhängigkeit kann man persönlich betroffen sein, sie kann aber auch ganze Gruppen, Einrichtungen, Organisationen oder Institutionen infizieren. Auch die Gesamtgesellschaft unterliegt co-abhängigen Tendenzen und Strömungen. Von Co-Abhängigkeit betroffene Personen benötigen Hilfe in Form von Beratung und Psychotherapie. Von Co-Abhängigkeit betroffene Institutionen benötigen ebenfalls Unterstützung in Form von Coaching und Maßnahmen der Personal- und Organisationsentwicklung.In diesem Buch werden folgende Absichten und Ziele verfolgt:1. Das Schweigen, das Vergessen und die Missachtung werden durchbrochen, und es wird für das co-abhängige Leiden sensibilisiert. 2. Es erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Missachtung und Verleugnung des co-abhängigen Leidens und den Defiziten der Suchthilfe, -prävention, -forschung und -politik. Es werden konkrete und vielfältige Anstöße und Anregungen gegeben, wie das Thema und die Betroffenen angemessene Berücksichtigung finden können und sollten. 3. Co-Abhängigkeit als persönliche und institutionelle Problematik und Störung wird umfassend konzeptualisiert, und es werden eindeutige diagnostische Leitlinien entwickelt, um das Ausmaß bzw. den Störungsgrad der co-abhängigen Verstrickung einer Person sowie einer Institution konkret beurteilen zu können. 4. Es werden die vielschichtigen persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen, Ursachen und Faktoren der co-abhängigen Problematik und Störung diskutiert und die Dynamik der Co-Abhängigkeit erläutert. 5. Möglichkeiten der Beratung und Behandlung von Angehörigen werden aufgezeigt und diskutiert, und es wird ein ausführlicher, personzentriert psychotherapeutischer Behandlungsansatz der Co-Abhängigkeit vorgestellt. Schließlich werden institutionelle Strategien und Maßnahmen, co-abhängigen Verstrickungen vorzubeugen und zu überwinden, skizziert. 6. Alle Inhalte werden durch zahlreiche und lebendige Praxis- und Fallbeispiele illustriert und verdeutlicht.Was Sie erwartet Sprache prägt Inhalte. Deswegen möchte ich Ihnen zunächst einige Gedanken zum Gebrauch von Sprache nahebringen, bevor Sie ein inhaltlicher Überblick über das Buch und seine Kapitel erwartet.Zum Gebrauch von Sprache Silben, Worte, Klang, Satzstellung und Semantik werden beim Lesen konsumiert. Sprache ist ein Genussmittel und kann berauschen. Einer ergötzt sich an der Lyrik von Shakespeare oder Schiller, ein anderer findet allmorgendlich Erfüllung in den fettgedruckten Dreiwortsätzen einer Boulevardzeitung, und ein weiterer ist beim Lesen von Rezepten beglückt. Geschmack ist bekanntlich individuell. Mich nervt die deutsche Unart des intellektuellen Bodybuildings, Fachtexte durch möglichst viele Fremdwörter, und zwar grammatikalisch korrekte, doch verschachtelte und unleserliche Satzwürmer, zu entstellen. Aus der englischsprachigen, psychologischen Fachliteratur kenne ich anderes.Es war leider nicht immer zu umgehen, in diesem Buch Fachsprache einzusetzen, und manchmal wollte ich Ihnen wichtige Fachausdrücke nicht vorenthalten. Doch habe ich mich bemüht, gut leserlich und verständlich zu formulieren. Immer wenn ich nicht weiterwusste, habe ich mir vorgestellt, wie sich meine Klienten ausdrücken würden, oder ich habe sie tatsächlich gefragt, ob sie mir helfen könnten, etwas zu formulieren. Das stellte sich als eine sehr effektive und erfolgreiche Strategie heraus. Obendrein werden die Fachinhalte durch zahlreiche Fallbeispiele konkret, lebendig und nachvollziehbar illustriert.Mein Anliegen ist es, Sprachrohr für die Belange der sprachlosen und still leidenden Zielgruppe der Angehörigen von Suchtkranken zu sein. Als humanistischer Psychologe bin ich überzeugt davon, dass therapeutisches Fachwissen und -sprache nur so weit tauglich und sinnvoll ist, wie es von der Klientel verstanden und angenommen wird, zumal ich festgestellt habe, dass extreme Phänomene wie Co-Abhängigkeit und Sucht vielmals nicht durch Fachsprache in ihrer dramatischen Tragweite zu erfassen sind. Fachliche Sachlichkeit und Objektivität können eine besonders verkappte Form der (co-abhängigen) Bagatellisierung und Schönrederei sein. Manchmal muss man die Sache einfach beim Namen nennen.Apropos! Nehmen Sie mir bitte meine geschlechtsspezifischen Formulierungen nicht übel, sie entsprechen meinen Erfahrungen in der Behandlung von Suchtformen, in denen die Symptomträger mehrheitlich Männer sind. Co-abhängige Angehörige sind überwiegend...

0 von 0 Bewertungen

Durchschnittliche Bewertung von 0 von 5 Sternen

Bewerten Sie dieses Produkt!

Teilen Sie Ihre Erfahrungen mit anderen Kunden.