Eingelebt
Erzählung
Die Erzählung beginnt geradezu nüchtern mit einer schweren Erschütterung: „Am 28. September 2011 hat sich meine Mutter das Leben genommen. Ich war nicht da.“ Die dichte, poetische Sprache, die die präzisen Beschreibungen einer Familiengeschichte trägt, ist eigensinnig, faszinierend, voller schillernder Wortschöpfungen – keineswegs harmlos und doch humorvoll spielerisch. Sie verführt beim Lesen dazu, sich zusammen mit der Protagonistin Britta Lübke nahe an die existenziellen und bestürzend beängstigenden Themen zu wagen: An den unfassbaren Skandal von Geburt und Tod, Gewalt, Trauma, Schuld, Schmerz und Verlust, die im Suizid der Mutter grausam zusammenschießen. Im Zentrum der Erzählung steht daher auch die rätselhafte, so unabgegoltene wie unzulängliche Mutterliebe – in beide Richtungen. Die Frage, wie sich diese Themen ins Leben einschreiben, wie sie sich einleben lassen, wird kunstvoll verwoben mit der Erkundung, wie individuelle Erfahrungen durch die deutsche Geschichte mitgestaltet sind, über Identifikationen verzerrend weitergereicht von einer Generation an die andere. So angemessen wie anrührend ist die literarische Form, die Anna Bella Eschengerd gewählt hat: Eine in sich schlüssige und doch das Fragmentarische der Lebensgeschichten herausstellende Collage aus Erzählung(en), Lyrik, Briefroman. Diese Form schmiegt sich an, an die Bildcollagen, die die in den Suizid entfleuchte Mutter der Hauptfigur schuf (bis ihre Krankheit sie daran hinderte), an die familiäre Collage der Ich-Erzählerin vor und nach diesem einschneidenden Ereignis, an die herausgerissenen, kaum aneinander-leimbaren Erinnerungen der Trauernden. Und stets kreist der Text um die zusammenstückelnde Gegenbewegung zum Auseinanderfallen in Einzelteile: Britta macht sich auf die Suche nach Erklärungen in Erinnerungen an skurrile Familienfeiern, in frappierenden Briefen (der Mutter, ihres Arztes, ihres Anwalts, ihrer Anverwandten), in feinfühligen Bewegungen von Playmobilfiguren, in Büchern, in wunderlichen Alpträumen, in Erzählungen, in der Sprachheilkunde, in den Stimmen der Orte, in den körperlichen Erfahrungen einer unzugänglichen Vergangenheit, in den geisterhaften Spuren der Verstorbenen in den Phantasien der Hinterbliebenen… Sie versucht die Bruchstücke neu angeordnet miteinander zu verkleben, sie zu verstehen, ein Bild zu schaffen, nicht nur ein Bild der Mutter, sondern auch ein Bild von der, die jene zurückgelassen hat, der Tochter, die nun selber Mutter ist… So entsteht eine vielschichtige Reflexion der Familie über die Grenzen des Todes hinweg, die in der Abfolge der Generationen durchaus hoffnungsvoll in die Zukunft weist.
Autor: | Eschengerd, Anna Bella |
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ISBN: | 9783939264521 |
Auflage: | 1 |
Sprache: | Deutsch |
Seitenzahl: | 186 |
Produktart: | Gebunden |
Verlag: | Kunstsinn |
Veröffentlicht: | 26.02.2024 |
Untertitel: | Erzählung |
Schlagworte: | Grenzen des Todes Schmerz Schuld Suizid Tauma Tof Verlust |
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