Herzlich Willkommen!
Ich bin Ollowain. Ich war Gandas Freund, so sehr ein Elf der Freund von Kommandantin Schlüsselchen sein konnte. Ihre von ihr selbst niedergeschriebene Lebensgeschichte fand auf wundersame Weise den Weg in meine Hände. Der Text dieses kleinen Büchleins, das in ein Öltuch eingewickelt war, wurde zum ersten Teil des vorliegenden Buches. Ganda konnte ich nicht wiederfinden. Sie verschwand in den ersten Jahren der Herrschaft des Trollkönigs Gilmarak über Albenmark, doch ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie nicht wirklich jenes Schicksal erwartete, das sie in ihrer Geschichte »Dem Ende nah« andeutete.Einige Stellen ihres Textes waren vom Wasser zerstört, auf vielen Seiten war die Tinte verwischt. Ich habe mich bemüht, Lücken zu schließen, wo immer dies möglich war. Um den Text leichter lesbar zu machen, habe ich ihn an einigen Stellen ergänzt. Zum Ende ihrer Aufzeichnungen hin verändert sich die Schrift; sie wirkt fahriger, ja, gehetzt.Ganz anders verhält es sich mit den Gedichten, die ich im Anschluss daran vorstellen möchte. Ich fand die beschriebenen Blätter Mondblütes und Gandas Kommentare dazu in ebenjenem Versteck, das die Lutin in ihrer Biographie angab. Ganda hatte die Herausgabe der Blattgedichte Mondblütes sehr sorgfältig vorbereitet, sodass ich ihre Erläuterungen und ihre Lesevorschläge der Gedichte bedenkenlos übernommen habe. Bei ihren persönlichen Anmerkungen zu den aufgeklebten Eichenblättern war ich mir lange unsicher, ob sie denn für ein größeres Publikum bestimmt wären. Ich glaube es nicht, und dennoch habe ich mich entschieden, Gandas Randnotizen in diese Ausgabe aufzunehmen, erlauben sie doch einen tieferen Blick in ihre Gedankenwelt und auf ihr vertrauliches Verhältnis zu Mondblüte. Nun bleibt dem geneigten Leser überlassen, über diese Entscheidung zu urteilen.gez. Ollowain,Schwertmeister Emerelles und Fürst der SnaiwamarkGANDAS GESCHICHTEDem Ende nahIch kann sie graben hören. Es ist ein beständiges, leises Schaben und Kratzen. Ich weiß nicht, wie nah sie mir schon sind. Ich glaube, mir bleibt noch ein Tag. Vielleicht auch zwei. Ich mache mir keine falschen Hoffnungen darüber, was geschehen wird, wenn sie zu mir vordringen. Die Elfenfürstin Alathaia steht nicht in dem Ruf, großmütig zu sein, schon gar nicht gegenüber jenen, die sie hintergangen und bestohlen haben. Ihre Magie hat hier unten, tief im Herzen eines Berges im alten Drachenland, keine Macht. Nur deshalb lebe ich noch. Doch es gibt aus dieser Höhle keinen zweiten Ausgang. Der Spalt im Boden, durch den ich Wasser rauschen höre, ist zu schmal, als dass ich mich hindurchzwängen könnte. Mir bleibt nichts, als hier zu sitzen und darauf zu warten, dass die Elfen kommen. So will ich meine letzten Stunden nutzen, um meine Geschichte aufzuschreiben. Und wer zwischen den Zeilen zu lesen vermag, der wird verstehen, warum ich ruhigen Herzens bin. Alathaia kann mich töten, aber ich werde sie dennoch besiegt haben. Ich, Ganda, eine Lutin!Ich weiß, die Meinen haben selbst nach den Maßstäben, die man gemeinhin für Kobolde anlegt, einen schlechten Ruf. Wir Lutin sind das einzige Volk, das kein eigenes Land erhielt, als die Alben die Welt erschufen. Wir wandern unstet von einem Ort zum anderen. Wir verstehen uns gut auf Magie und darauf, die geheimen, magischen Pfade der Alben zu finden. Wir gelten als Diebe und Betrüger. Man traut uns jeden Verrat zu, und ich muss gestehen, das meiste, was man über uns erzählt, ist nicht erfunden.Wir Lutin reichen den Elfen kaum bis zu den Knien. Man übersieht uns gern, was für Diebe nicht von Nachteil ist. Doch obwohl wir so klein von Gestalt sind, haben wir in den letzten zwanzig Jahresläufen die Geschicke einer ganzen Welt in neue Bahnen gelenkt. Aber ich will nicht vorgreifen. Ich sollte ganz am Anfang beginnen.An meine frühe Kindheit vermag ich mich kaum zu erinnern. Ich weiß, dass meine Mutter gern reiste. Ich sehe noch ihr Lieblingskleid vor mir, bunt und mit Perlen bestickt, so wie die Tasche, die sie stets über der Schulter trug. Sie schmückte ihren Finger mit einem Ring aus sich windenden Schlangen, den ich als Kind abwechselnd schrecklich oder schlichtweg faszinierend fand. Sosehr ich mich jedoch anstrenge, kann ich mir das Gesicht meiner Mutter beim besten Willen nicht ins Gedächtnis rufen. Ihre Stimme habe ich allerdings nicht vergessen, sie war warm und freundlich.Wohin wir auch reisten, Mutter schien immer rastlos zu bleiben. Nirgends verweilten wir länger als ein paar Tage. Sie war eine meisterhafte Diebin. Hunger kannte ich als Kind keinen. Aber die Angst vor dem Dunkel jenseits der Albenpfade, über die sie mich so oft trug, hat sich tief in meine Seele gefressen. Dieses Gefühl, belauert zu werden ...Ich bin dankbar für das geisterhafte Licht, das in den Kristallen der Höhlenwände hier flackert. Dabei zerbreche ich mir nicht den Kopf, welchen Ursprung es haben mag. Ich bin einfach nur dankbar. Es vertreibt das Dunkel und erlaubt mir, diese Zeilen niederzuschreiben.Meine Mutter zeigte mir die schönsten Orte dieser Welt, wie das melancholische Vahan Calyd, in dem in den achtundzwanzig Jahren zwischen zwei Königswahlen nur einige Holde und die Winterkrabben aus den nahen Mangroven leben. Ich besuchte die Elfenstädte, die tief in den Bergen der Snaiwamark und Carandamons liegen. Ich war Zeuge, wie die Kentauren mit ihren Herden durch das verschneite Windland ziehen, bin in Reilimee gewesen, bevor die Trolle es heimsuchten und als die Stadt noch so reich war, dass selbst die Bettler Silberschalen besaßen. Ich sah den Frühlingsnebel über den verwunschenen Seen Arkadiens und die Fürstengräber der Lamassu, in denen dieses seltsame Volk seine Herrscher lebendig einmauert, wenn ihre Zeit gekommen ist. Es sollten Jahre vergehen, bis ich begriff, warum meine Mutter so viel reiste und wie meisterlich sie mich getäuscht hatte. Und nicht nur mich .Ich wünschte, ich hätte sie besser gekannt. Wenn ich jetzt an sie zurückdenke, habe ich das Gefühl, als läge ein heimtückischer Fluch auf mir. Ich sehe wieder ihr Kleid vor Augen. Und ganz deutlich höre ich noch die letzten Worte, die sie zu mir sagte: Ich bin kurz Wasser holen.Ich weiß, ich habe sie danach noch einmal gesehen, denn ich erinnere mich daran, wie ihre Tasche zwischen leuchtend roten Mohnblüten am Ufer eines Baches lag. Das Kästchen mit den Intarsien aus Pferdezähnen, das einmal darin gesteckt hatte, war verschwunden. Meine Mutter muss neben der Tasche gelegen haben. Im Schatten des Felsens, der an einen kauernden Bären gemahnte.Ich glaube, ich habe sehr lange gewartet, bis ich zum Bach ging. Sie hatte mir stets eingeschärft, mich zu verstecken und keinen Laut von mir zu geben, wenn sie nicht bei mir war. Ihrem Mörder scheine ich egal gewesen zu sein; anders kann ich mir nicht erklären, dass ich verschont blieb.Was ich danach tat - ich weiß es nicht. Meine Erinnerung daran ist vollkommen erloschen. Ich muss wohl hinaus ins weite Grasland gelaufen sein.
Autor: Hennen, Bernhard
ISBN: 9783453524224
Sprache: Deutsch
Produktart: Kartoniert / Broschiert
Verlag: Heyne Taschenb.
Veröffentlicht: 03.02.2009
Schlagworte: Albenmark Elfen Emerelle Fantasy Ganda High Fantasy

0 von 0 Bewertungen

Durchschnittliche Bewertung von 0 von 5 Sternen

Bewerten Sie dieses Produkt!

Teilen Sie Ihre Erfahrungen mit anderen Kunden.