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Brandmauern und Ramsch Als Flaneur in der Hauptstadt AM SCHIFFBAUERDAMM war es, als hätte Brecht eine große Kulisse geschoben. Alles war schwarzweiß - ein fahles, düsteres Schwarzweiß, das Schraffuren von Nebel und Dunst zeigen konnte; und vom Bahnhof Friedrichstraße wehte immer etwas Metallenes herüber, etwas aus den zwanziger Jahren, mit Industrieromantik und Ruß. Man konnte sich im »Trichter« ans Fenster setzen und sich mit dem Ellbogen an der Lehne aufstützen: durch die verhangenen Gardinen hindurch, durch die staubigen Zimmerpflanzen und deren gummiartige Geduld war die S-Bahn-Brücke über die Spree im Bild, ihre gelassene, geschwungene Eisenkonstruktion. Eine Fotografie, ein Standbild, das ewig zu währen schien, man brauchte nicht einmal zu knipsen. Ab und zu kam ein Kellner vorbei und stellte wortlos das nächste Bier hin, so wie es der Brauch war. Eine Weltstadt war das nicht, dazu kannte man sich zu gut und lief sich ständig über den Weg, aber man saß in den Kulissen einer Weltstadt. Die Geschichte war recht ansprechend aufgebaut und mit ein paar Schnörkeln und schütteren Fahnen drapiert, eisig und rot, und wenn man in die Brecht-Buchhandlung im Haus an der Chausseestraße ging, hatte man sofort den Überblick über das, was gerade von Brecht zu kriegen war. Wenn man eine Beziehung zu einer der Buchhändlerinnen aufgebaut hatte, manchmal auch über das, was sonst noch gedruckt wurde. Es war eine eigenartige Stimmigkeit in der alten Friedrich-Wilhelm-Stadt jenseits der Weidendammer Brücke. Die Wohnungen korrespondierten untereinander mit ihren Holzvertäfelungen und Stoffbezügen in warmen Tönen. Und das Kachelofenhafte legte sein besonderes Timbre über die Verrichtungen des Alltags: man konnte sich in seinem Sessel verkriechen und dennoch stundenlang am Küchentisch mit ein paar anderen und der Wodkaflasche schwadronieren, oder mit Erlauer Stierblut; aber nie mit dem Höllenfeuer aus den Tanks der Weinkellerei Neubrandenburg, das war für die in den Plattenbauten. Die Bücherregale schienen die Wohnungen zu bestimmen in diesen Häusern, die alt und hellhörig waren; dunkle, improvisierte Holzbretter, die immer verschlungene Wege hinter sich hatten, weil es sie offiziell nicht gab. Die Zeit stand still. Die Gasgeräte, die Plastikwasserhähne mit dem dünnen Strahl, die Ata- und Florena-Verpackungen schienen die Gegenwart ein bißchen außer Kraft zu setzen. Daß das »Berliner Ensemble« ein Museum war, war deswegen kein Zufall. Man bewegte sich in einem abgesteckten Terrain, und die Wortfelder und Diskussionsthemen waren immer dieselben. Aber sie waren unerschöpflich. ...
Autor: Böttiger, Helmut
ISBN: 9783630879864
Sprache: Deutsch
Produktart: Kartoniert / Broschiert
Verlag: Luchterhand
Veröffentlicht: 01.01.1996
Untertitel: Aufbrüche einer neuen Kultur
Schlagworte: Deutsche Einheit, Wiedervereinigung

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