
HauptAutor Heinrich Haller: Der Wolf – Grenzgänger zwischen Natur und Kultur

Woher kommt Ihre Faszination für den Wolf? Und wie kam es dazu, dieser Tierart ein eigenes Buch zu widmen?
Große Beutegreifer haben mich ein Leben lang fasziniert, auch weil sie Ausdruck unberührter Natur sind. Diese Zuordnung hat sich dann im Verlauf der vielen Jahre, in denen ich mich beruflich mit Steinadler, Luchs, Uhu und nun mit dem Wolf beschäftigt habe, etwas relativiert. So hat sich neben der Wildnis auch eine enge persönliche Beziehung zur Kulturlandschaft ergeben. Vor 50 Jahren schien es utopisch, dass dereinst Wölfe wieder in der Schweiz leben würden. Mit deren Einwanderung primär vom Apennin her hat sich diese Perspektive in den letzten Jahrzehnten geändert. Und es lag nahe, nach den genannten Arten sich auch mit dem Wolf zu beschäftigen, ihn in der heimischen Natur zu erleben und kennenzulernen. Nachdem 2022 beim Haupt Verlag ein viel beachtetes Buch von mir über den Kolkraben, den Wolfsvogel, erschienen war, wollte ich ein Parallelwerk zum Wolf selbst folgen lassen.

Der Wolf als Teil unserer Umwelt: Welche Funktion übernimmt der Wolf in unserem Ökosystem?
Der Wolf hat für unsere Natur eine große Bedeutung; er ist eine sogenannte Schlüsselart. Das heißt, dass der Wolf im Vergleich zu seiner naturgegeben geringen Häufigkeit einen besonders großen Einfluss auf die Lebensgemeinschaft ausüben kann. Mit dem Wolf kommen auch auf der Ebene von Großtieren Räuber-Beute -Systeme wieder in Gang. Diese sind ein Grundprinzip der Natur, es geht konkret um die Wirkungen des Wolfs als Jäger der wild lebenden Huftiere wie Rothirsch, Reh oder Gämse. Ein Beispiel: Als Pflanzenfresser verbeißen diese Wildtiere oft die Triebe von Bäumen und beeinflussen so die Waldentwicklung. Der Wolf und andere Beutegreifer tragen dazu bei, die Natur ins Lot zu bringen.

Sie haben über eine geraume Zeit die Wölfin F18 beobachtet, die auch auf dem Cover des Buches verewigt wurde. Was können Sie uns über ihren Verbleib mitteilen und auf welche Messmethoden stützen sich Ihre Angaben?
Nachdem ich Wölfe schon früher erwartet hatte, wanderte F18 Ende 2016 im Ofenpassgebiet ein. Sie war der erste im Schweizerischen Nationalpark und dessen Umgebung ansässig gewordene Wolf, und ich machte es mir zum Ziel, dieses Tier zu dokumentieren. F18, die ich individuell kannte, verpaarte sich nicht; sie blieb allein, aus welchen Gründen auch immer. Im Herbst 2022 wurde sie dann von einem neu aufgetretenen männlichen Wolf und dessen Begleiterin verdrängt. Daraufhin verlagerte sich F18 ins untere Engadin, in ein Randgebiet des vorher frequentierten Raums. Ab Mai 2023 blieb sie verschollen. Es fehlen seither genetische Nachweise dieser Wölfin. Die Wahrscheinlichkeit erscheint hoch, dass sie nicht mehr lebt.

An der Wolfsvernissage haben Sie das Hirt:innenleben auf dem Tibet-Plateau angesprochen. Können Sie uns einen kleinen Einblick geben, inwiefern sich die Arbeit dort von unserem Herdenschutz unterscheidet?
In Hochasien, wo die Haltung von Schafen und Ziegen ein essenzieller Erwerbszweig ist, wird dieses Kleinvieh überall vor Großraubtieren wie Wolf, Schneeleopard oder Luchs geschützt: Die Nutztiere verbringen die Nacht in sicheren Pferchen, tagsüber werden die weidenden Tiere von Hirtinnen oder Hirten ständig aus naher Distanz beaufsichtigt. Die Herdengrößen bleiben überschaubar, weshalb Hunde für die Führung und den Schutz der Herde hier nicht dieselbe Bedeutung haben wie bei uns. Was ganz wichtig ist: Großraubtiere gehörten im Himalaja und in Tibet immer schon zum natürlichen Umfeld, dem man sich anpassen musste. So wird die Präsenz von Wölfen als Selbstverständlichkeit empfunden.

Wolfspolitik in der Schweiz: Was denken Sie, wie steht es um die Zukunft der Wölfe in der Schweiz?
Der Wolf ist in die Schweiz zurückgekehrt, um hier zu bleiben; dieser Grundsatz ist rechtlich abgesichert. Es stellt sich die gesellschaftliche Frage, in welcher Form wir seine Präsenz zulassen. Aus oben angeführten Gründen wäre es wichtig, dass der Wolf seine Wirkungen für eine intakte Natur verbreitet entfalten kann. Das würde eine Verteilung der Rudel über alle geeigneten Lebensräume bedeuten. Eine massive Bestandsregulierung stellt die ökologischen Leistungen des Wolfs in Frage und ist zusätzlich mit hohen Aufwendungen verbunden. Die verfügbaren Mittel investiert man m. E. gewinnbringender in konsequenten Herdenschutz. Beispielsweise im Apennin wird dies so gehandhabt; im deutsch- und französischsprachigen Alpenraum herrschen allerdings oft andere Meinungen vor.

Ausdauer hat bei dem Buch eine zentrale Rolle gespielt. Könnten Sie uns das etwas genauer ausführen?
Wölfen in der Schweiz zu begegnen, ist eine Art Lotterie, der Zufall spielt die entscheidende Rolle. Wenn viele Leute draußen unterwegs sind, gibt es immer einzelne Personen, die das Glück haben, einen Wolf zu sehen. Gezielte Beobachtungen sind nur in speziellen Fällen möglich und deshalb bleibt einem der Wolf meist verborgen. Es sei denn, man begebe sich sehr häufig ins Wolfsgebiet, vorzugsweise am frühen Morgen oder späten Abend. Mit der nötigen Aufmerksamkeit wird es irgendwann, meistens unerwartet, zu einem Wolfskontakt kommen. Der Anblick des lange gesuchten Tieres war bei mir jedes Mal mit einem Kick verbunden, der unvergessen bleibt.

Welche Botschaft möchten Sie mit dem umfangreichen und bibliophilen Werk vermitteln?
Die Fotos des Bild-Text-Bandes sind als Türöffner gedacht, um sich mit dem Inhalt auseinanderzusetzen. Das Buch soll einen Beitrag zu einer sachbezogenen Wolfsdiskussion leisten. Zu oft wird das Thema emotional oder gar ideologisch und dadurch polarisierend behandelt. Dabei scheint mir der Vergleich mit anderen Wolfsgebieten besonders wichtig. Nachdem die Art bei uns 100 und mehr Jahre gefehlt hat, müssen wir den Umgang mit ihr wieder lernen und üben. Man muss das Rad nicht neu erfinden, sondern nutzt mit Vorteil bewährte Erfahrungen. Und da zeigt sich, dass der Herdenschutz mit Hirten, Hunden und Zäunen essenziell ist.

Und zum Schluss: Haben Sie ein besonderes Erlebnis mit einem Wolf gehabt, das Sie geprägt hat und das Sie hier mit uns teilen möchten?
Bei meiner Beschäftigung mit dem Wolf war der Fund einer Wolfshöhle in Tibet in verschiedener Hinsicht ein Höhepunkt. In total abgelegenem, fast nur expeditionsmäßig zu erreichendem Gebiet konnte ich im Jahre 2006 an zwei Tagen eine Wolfsfamilie mit sechs Welpen beobachten. Es war eine meiner ersten Begegnungen mit dem Wolf und dies im Bereich der vielleicht höchsten in der Literatur bisher verzeichneten Wurfhöhle, auf 5360 m ü. M. Dieses Erlebnis, das im Buch bildlich dokumentiert wird, hat meine persönliche Verbindung zum Wolf gestärkt und war für das neue Werk eine wichtige Ausgangslage. Immerhin, auf diese eine spezielle Erfahrung konnte ich bei den kommenden Recherchen aufbauen.

Fotos: © Heinrich Haller

Heinrich Haller, geboren 1954, hat an der Universität Bern Zoologie, Botanik und Geografie studiert und an der Universität Göttingen in Wildbiologie habilitiert. Seine Fachgebiete sind die Gebirgsökologie im Allgemeinen und die großen Wildtiere der Alpen im Speziellen. Heinrich Haller war von 1996 bis zu seiner Pensionierung 2019 Direktor des Schweizerischen Nationalparks (SNP) und lehrte als außerplanmäßiger Professor Gebirgsökologie an der Universität Göttingen.