
Papier in der dritten Dimension: Neue Herangehensweise
Wir leben in einer dreidimensionalen Welt, aber die meisten Objekte werden aus zweidimensionalen Ansichten entworfen. Das neue Buch «Papier in der dritten Dimension» von Papierkünstler und -designer Paul Jackson lehrt Lesende, direkt in der dritten Dimension zu denken und zu entwerfen.
Mit den nachfolgenden Ausführungen des Autors aus dem Vorwort des Buches und einen praktischen Beispiel möchten wir Sie eintauchen und diese neue Herangehensweise ausprobieren lassen. Los geht’s!
Vorwort des Autors Paul Jackson
Schauen Sie sich einmal bewusst um. Sehen Sie nach oben und unten, rechts und links, hinten und vorne. Anders ausgedrückt: Nehmen Sie Höhe, Breite und Tiefe wahr. Diese drei Dimensionen sind so allgegenwärtig, dass wir ihr Vorhandensein im Alltag nur selten realisieren. Doch ohne sie ist die Welt nicht vorstellbar. Alles, was wir kreieren und erschaffen, wird Teil dieses dreidimensionalen Raums. Für mich ergibt sich daraus eine große und wichtige Frage: Warum nur denken und entwerfen wir so selten in drei Dimensionen? «Was soll die Frage?», werden Sie vielleicht entgegnen. Immerhin nutzen Sie ja tagtäglich unzählige dreidimensionale Gegenstände, die Menschen erfunden und hergestellt haben. Doch das ist nicht der Punkt.
Die meisten Ideen und Entwürfe starten zweidimensional als Skizze – sie kommen flach auf die Welt. Seit fast vier Jahrzehnten unterrichte ich in Europa, Nordamerika und Asien Student:innen und Kunstschaffende. Ich lehre in den unterschiedlichsten Design-Disziplinen, von Mode bis Architektur, von Schmuckdesign bis Keramik. Eine überraschende Erkenntnis aus dieser Zeit ist: Die Herangehensweise bei der Entwicklung dreidimensionaler Objekte ist faktisch überall dieselbe. Sie entstehen als Serie zweidimensionaler Bilder mit diversen Seiten-, Decken- und Bodenansichten. So gut wie kein Objekt wird als dreidimensionales Gebilde erarbeitet. Also begann ich, meine ahnungslosen Student:innen zu Versuchskaninchen zu machen. Ich entwickelte für sie eine Reihe von Papierfaltaufgaben, um ihre Fähigkeiten im dreidimensionalen Denken und Entwerfen zu testen. Wie erwartet, hatten die meisten Probleme damit. Stellte ich ihnen dagegen praktische Aufgaben, verbesserten sie sich diesbezüglich deutlich. Als maßgeblich für den Erfolg entpuppte es sich dabei, beim Lösen die dreidimensionale Symmetrie anzuwenden: Alles, was entlang der x-Achse geschieht, muss sich hier auch entlang der y- und der z-Achse wiederfinden.
Für das Buch «Papier in der dritten Dimension» habe ich die Übungen zusammengetragen, die sich für meine Student:innen als die sinnvollsten erwiesen haben. Am besten arbeiten Sie sich Schritt für Schritt durch die Anleitungen und bauen so viele Beispiele wie möglich nach. Ihre Kompetenz im räumlichen Denken und Gestalten wird sich so erheblich verbessern. Der Vorteil dieser Methode ist, dass sich Ihnen wirklich eine neue Art des Entwerfens eröffnet. […]
Mein Buch ist dabei wie ein Roman aufgebaut: Es gibt eine Einleitung, einen Mittelteil und einen Schluss. So wie Sie einen Roman nicht in willkürlicher Reihenfolge lesen würden, sollten Sie auch bei diesem Buch nicht beliebig vor- und zurückspringen. Arbeiten Sie sich von Kapitel zu Kapitel – die Fähigkeit, dreidimensional zu denken und zu entwerfen, lässt sich nur Schritt für Schritt trainieren. Und bitte: Lesen Sie nicht nur! Bauen Sie so viele Projekte wie möglich nach! Denn ohne die Praxis werden Sie Ihre Fähigkeit im dreidimensionalen Denken nicht verbessern. Wir sind haptische Wesen und lernen am besten, wenn wir unsere Hände nutzen. Was wir anschauen, lernen wir zwar zu einem gewissen Grad kennen, aber diese Kenntnisse sind flüchtig und können leicht wieder verloren gehen. Was wir tun und «be-greifen», das bleibt uns für immer
erhalten. Einige Projekte erfordern viel Zeit, doch das ist gut so. «Gut Ding will Weile haben», wie der Volksmund sagt. Es wird manchmal dauern, bis Sie durchschauen, wie die einzelnen Elemente miteinander kombiniert sind, wie 3-D-Symmetrie funktioniert und wie sie sich umsetzen lässt. Die Zeit ist jedoch gut investiert, schließlich eignen Sie sich gerade eine völlig neue Technik und eine neue Art zu denken an. Es kann hilfreich sein, sich die Projekte als Puzzles vorzustellen, als Konstruktionen, die langsam und geduldig zusammengesetzt werden müssen. Geben Sie nicht zu früh auf. Die Fragen finden ihre Antworten, wenn Sie erst gelernt haben, dreidimensional zu denken. Kurz gesagt: Je mehr Sie tüfteln und je mehr Projekte Sie umsetzen, desto mehr werden Sie von diesem Buch profitieren.
Arbeitsmaterialien und Ausstattung
Alle Projekte in Paul Jacksons Buch wurden mit Karton in der Stärke 190 g/m² erstellt. Am besten kaufen Sie diesen in DIN A3 oder DIN A4. Zu größeren Formaten sollten Sie nicht greifen, da diese unhandlich sind. Zwar kommen Sie kleinere Bögen teurer, dafür können Sie diese aber problemloser verstauen. Sollten Sie nur wenig Arbeitsfläche haben, sind diese Formate außerdem besser zu schneiden.
Wenn kein Karton von 190 g/m² verfügbar ist, lässt sich auch jeder beliebige Karton von 160 bis 220 g/m² verwenden. Er ist dann in jedem Fall robust genug, um den Objektstrukturen die erforderliche Festigkeit zu geben. Gleichzeitig ist die Flexibilität so
groß, dass Sie den Karton bei Verzahnungen oder Überlappungen biegen oder miteinander verschränken können. Karton in einer Stärke von unter 160 g/m² ist nicht stabil genug, dickerer Karton wird zu klobig und steif. Dessen ungeachtet lassen
sich einige Projekte durchaus mit sehr festem Karton, ja sogar mit Holz, Metall oder Plastik erfolgreich und ästhetisch umsetzen.
Die dreidimensionale Symmetrie einer Struktur ist besser zu erkennen, wenn verschiedene Farben verwendet werden. Die Konstruktionen in Paul Jacksons Buch sind mehrfarbig, weil dies der Klarheit und Nachvollziehbarkeit dient – es stehen keine ästhetischen Beweggründe dahinter. Der Autor möchte Sie, liebe Leser:innen aber trotzdem ermuntern, Karton in unterschiedlichen Farbtönen zu verwenden. Begnügen Sie sich nicht mit dem überall erhältlichen Weiß.
QR-Codes im Buch
Dreidimensional gestaltete Entwürfe lassen sich schwer so fotografieren, dass die ihnen zugrundeliegende Struktur mit nur einer Kameraeinstellung sichtbar wird. Im Buch «Papier in der dritten Dimension» finden Sie zahlreiche QR-Codes, die zu kurzen Videosequenzen führen. Die Projekte werden in diesen auf Drehtellern gezeigt, denn nur in der Rotation lässt sich Dreidimensionalität wirklich verstehen.
Höchste Zeit also, selber loszulegen!
Lassen Sie sich darauf ein. Wenn Sie das Buch und die Übungen darin sorgfältig durcharbeiten, wird sich Ihnen eine neue Welt des dreidimensionalen Denkens und Entwerfens eröffnen und Ihre Designs werden an Raffinesse und Originalität gewinnen. (Paul Jackson)
Denken in der Ebene, Denken im Raum
Von Ecke zu Ecke
Halbieren bedeutet, dass etwas – ganz gleich ob Linie, Winkel, Fläche oder Körper – in zwei gleich große Hälften zerteilt wird. Da wir hier dreidimensionale Figuren im dreidimensionalen Raum behandeln, untersuchen wir, wie sich ein Würfel halbieren lässt.
Rein zahlenmäßig ist nicht der Würfel, sondern das Tetraeder der einfachste geometrische Körper. Der Vierflächner besteht aus vier identischen Flächen (gleichschenkligen Dreiecken), sechs Kanten und vier Ecken. Doch was Einfachheit und Erklärbarkeit angeht, ist der Würfel unübertroffen, da bei ihm, wie bereits erwähnt, alle x-, y- und z-Achsen im 90°-Winkel zueinanderstehen. Die Strukturen
und Symmetrien sind leichter zu visualisieren. Auf welche unterschiedlichen Arten lässt sich ein Würfel durch einen geraden Schnitt halbieren? Wir gehen von den verschiedenen Symmetrien aus, die sich aus den Beziehungen der Flächen, Kanten und Ecken zueinander ergeben. Im Folgenden untersuchen wir die Beziehung zweier zueinander liegenden Ecken im Würfel!
A Wählen Sie zwei in Maximalabstand zueinander liegende Ecken aus (hier lila dargestellt).
B Ziehen Sie rund um den Würfel eine durchgehende grüne Linie so, dass diese zu jeder der beiden Ecken den gleichen Abstand hat. Die Linie wird dann genau mittig auf die sechs Kanten treffen. Verbunden ergibt sich aus diesen Punkten erstaunlicherweise ein regelmäßiges Sechseck. Dass eine enge geometrische Relation zwischen einem Würfel und einem Sechseck besteht, mag für viele überraschend sein – immerhin ist ein Würfel dreidimensional, mit quadratischen Flächen, die im 90°-Winkel zueinander liegen; ein Sechseck ist zweidimensional, mit sechs im Winkel von 120° zueinander liegenden Kanten. Doch die simple Konstruktion oben belegt dieses faszinierende Feld der Geometrie.
C Spannen Sie nun einen – echten oder gedachten – Gummiring entlang dieser Linie um den Würfel. Können Sie nachvollziehen, wo der Gummi zu verlaufen hat, steht dem Bau der nachfolgend beschriebenen Würfelkonstruktion nichts mehr im Wege.
Trennung der Würfelhälften
Wird der Würfel entlang der Linie in zwei Hälften geteilt, zeigt sich die Schnittstelle als regelmäßiges Sechseck. Abgesehen von der Sechseckseite betragen alle übrigen Winkel 45° beziehungsweise 90°. Fast scheint es, als seien zwei unterschiedliche Systeme der Geometrie kombiniert worden, nämlich das an Quadraten (orthogonale) und das an Dreiecken beziehungsweise an Sechsecken ausgerichtete (isometrische).
Körpermodule
Das hier erforderliche Körpernetz ist, obwohl es nur drei verschiedene Winkel und Längen aufweist, eine relativ komplexe Konstruktion. Doch die Mühe lohnt sich, denn eine der überraschendsten und schönsten Halbierungen, die man mit einem Würfel (und vielen anderen Körpern) machen kann, erwartet Sie.
Probieren Sie es aus!
Und falls es Sie jetzt mit Haut und Haaren gepackt hat, dann finden Sie weitere aufbauende Übungen im entsprechenden Buch.
Fotos der 3D-Papiermodelle: © Meidad Suchowolski
Text: adaptiert aus «Papier in der dritten Dimension»
Paul Jackson hat bereits in den frühen 1980er-Jahren Papierkunst und Papierdesign für sich als Beruf entdeckt. Er hat mehr als 30 Bücher über Origami und Papierkunst verfasst, Falttechniken in mehr als 50 Hochschulen für Kunst und Design gelehrt, zahlreiche Auftragsmodelle für Druck, Fernsehen und andere Medien ausgeführt und Unternehmen wie Nike und Siemens bezüglich ihrer Produkte beraten. Seine Werke aus gefaltetem Papier waren und sind in Galerien und Museen auf der ganzen Welt zu sehen. Paul Jackson verfügt über mehrere Studienabschlüsse in den Bereichen Bildende Kunst, Experimentelle Mediengestaltung und Verpackungsdesign. Er ist vor zehn Jahren von London nach Tel Aviv umgezogen, wo er heute lebt.