
Faszination «Wasser»
Wenn ich an Wasser denke, denke ich an Überschwemmungen in Bern und an den kindlichen Wunsch, in der Altstadt zu wohnen, damit ich an Überschwemmungstagen mit dem Boot zur Schule fahren konnte. Mit Wasser verbinde ich das wunderbare Gefühl des Durstlöschens.
Ich denke ich an die riesigen Wasserwände, die 2004 im indischen Ozean auf diverse Küsten zurasten und auf den Filmkameras der Tourist:innen für die Nachwelt festgehalten wurden. Ich denke an die Kraft, die Beschaffenheit und die verschiedenen Aggregatzustände von Wasser, an Gesundheit und Leben.

Welche Erlebnisse verbinden Sie mit Wasser?
Auch erinnere ich mich an ein bestimmtes Erlebnis: Ich war noch sehr klein und stand am Rand eines Steges zusammen mit meiner Schwester. Lächeln, Arm in Arm, bereit für ein Foto, hinter uns ein blauer, schöner See. Meine Mutter war noch nicht zufrieden mit unserer Positionierung. Ich nahm einen zu großen Schritt nach hinten und im nächsten Augenblick umhüllte mich eine unglaublichen Ruhe. Ich schwebte im nassen Blau des Sees, um mich herum Wasser und beobachtete das Licht, das durch die Oberfläche fiel. Ich hatte keine Angst und dachte gar nicht daran, dass ich nicht atmen konnte. Es war alles so friedlich. Auf einmal sah ich farbige Wesen vor meinen Augen, Fische und Seepferdchen und weitere Ausschmückungen meiner Fantasie. Diese Szenerie wurde abrupt unterbrochen, denn irgendetwas Starkes zog mich auf einmal nach oben, durch die Wasseroberfläche hindurch, ließ mich dann aber wieder fallen und ich war zurück im ruhigen Blau. Ich bewegte mich nicht. Es war so schön. Doch erneut wurde ich am Kragen gepackt, hochgehievt. Diesmal reichte die Kraft aus und ich landete klitschnass auf dem sonnigen Steg. Auf einmal waren da wider überall Geräusche um mich herum, mein Vater, der mich aus dem Wasser gefischt hatte und meine schockierte Familie über mir. Ich habe keine Ahnung, wie lange das alles andauerte, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit und hat sich bis heute in mein Hirn eingebrannt.
Welche Erlebnisse verbinden Sie mit Wasser?
Im neuen Buch der Reihe Naturphänomene, betrachtet die Autorin Veronica Strang das Naturelement «Wasser» aus unterschiedlichen Blickwinkeln und geht dabei kulturellen, materiellen, ökologischen und politischen Aspekten auf den Grund. Nachfolgend haben wir Ihnen einige Kapitel aus dem Buch zusammengetragen.
Tauchen Sie also gerne ein …
Wasser auf der Erde
Kaum etwas drückt die Interaktion zwischen der Menschheit und der materiellen Welt so umfassend aus wie das Wasser. Seine besonderen Eigenschaften sind von zentraler Bedeutung für die Evolution aller biologischen Organismen im Laufe der Zeit und gleichzeitig auch dafür, wie die verschiedenen menschlichen Gesellschaften Wasser erfahren und darüber nachdenken, was es ist und was es bedeutet. Viele Gesellschaften kamen durch die Beobachtung der mit Wasser verknüpften Leben spendenden Vorgänge zu dem Schluss, dass alles Leben auf der Erde aus dem Wasser gekommen sein muss, und diese Erklärung bildete im Laufe der Zeit die Grundlage für viele Ursprungsmythen.
Aber wie kamen eigentlich das Wasser und das Leben auf die Erde? Im All gibt es zahlreiche Formen von (oder Zutaten für) Wasser. Das Sonnensystem selbst entstand dem heutigen Wissensstand nach vor 4,5 Milliarden Jahren aus einer Gasspirale, die hauptsächlich aus Wasserstoff bestand. Kürzlich entdeckte man eine gewaltige Wasserdampfwolke um ein schwarzes Loch in 10 Milliarden Lichtjahren Entfernung, die Schätzungen zufolge 140 Billionen Mal so viel Wasser enthält wie die Ozeane der Erde. Mehrere Himmelskörper scheinen eine Art Hydrosphäre zu besitzen, und man nimmt an, dass es auf den Jupitermonden Ganymed und Europa tiefe Ozeane gibt, wenn auch unter dicken Eisschichten.

Noch heute gibt es keinen wissenschaftlichen Konsens über den Ursprung des Wassers auf der Erde.
1876 entdeckte der italienische Priester Pietro Secchi Strukturen auf dem Mars, die wie Rinnen (canali) aussahen. Die Karte dieser Strukturen, die der Astronom Giovanni Schiaparelli 1877 erstellte, und die Übersetzung von canali als «Kanäle» weckten bei manchen Himmelsguckern wie dem amerikanischen Astronomen Percival Lowell die Idee, dass sie von einer intelligenten Zivilisation angelegt worden sein mussten. Diese verlockende Vorstellung hielt sich, bis auf den Weltraummissionen der 1960er- und 70er-Jahre klarere Fotos gemacht wurden. Inzwischen geht man davon aus, dass das meiste Wasser auf dem roten Planeten in einer Kryosphäre aus Eis und Permafrost eingeschlossen ist. Warum also wurde die Erde zum blauen Planeten, gekennzeichnet durch riesige Ozeanflächen und Landschaften, die von gewaltigen durchzogen sind? Wie kam sie zu einer Hydrosphäre, aus der so vielgestaltige Lebensformen hervorgehen konnten? Während die Begeisterung für canali bauende Marsianer hohe Wellen schlug, stellte Svante Arrhenius die Theorie auf, dass lebendige Partikel entweder mithilfe von «Radio-Panspermie» auf die Erde gekommen seien, also auf Lichtstrahlen aus dem All zu uns reisten, oder dass Mikroben und Sporen durch Meteoriten auf die Erde gebracht wurden. Bis vor Kurzem dachte man, dass das Wasser mit den häufigen Meteoritenschauern zusammen die Erde erreichte, die in ihrer Entstehungszeit auf sie niedergingen, doch der Astrophysiker Martin Ward sagt dazu: «Jüngere Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Isotopenverhältnisse von Wasser, also das Verhältnis von H2O zu D2O (Deuterium ist ein Isotop von Wasserstoff), in Kometen nicht dasselbe ist wie [im Wasser] auf der Erde. Inzwischen glaubt man, dass Asteroiden beträchtliche Mengen Wasser enthalten könnten und dass ihre Einschläge auf der Erde während des sogenannten «späten schweren Bombardements» vor etwa 4 Milliarden Jahren die Quelle für einen großen Teil des Wassers auf der Erde gewesen sein könnten.»
Noch heute gibt es keinen wissenschaftlichen Konsens über den Ursprung des Wassers auf der Erde. Jedoch liefern die von Charles Darwin und Louis Pasteur entwickelten Überlegungen eine überzeugende Vision der chemischen Evolution, in der Sonnenlicht und Radioaktivität für ausreichend Wärme und Energie für die Erzeugung von Wasser sorgten und eine lebhafte Interaktion zwischen Aminosäuren, Kohlenmonoxid, Kohlendioxid, Stickstoff und anderen organischen Stoffen die Entstehung lebender Zellen mit eigenen Stoffwechsel- und Reproduktionsprozessen ermöglichten.

Wasser zeichnet sich durch Bewegung und Transformation aus.
Die molekulare Zusammensetzung des Wassers ist entscheidend für eine seiner hervorstechendsten materiellen Eigenschaften: die Fähigkeit, physikalisch seine Form zu verändern, von Eis zu Flüssigkeit und von Flüssigkeit zu Dampf. Und das auf jeder Mikro- und Makroebene: Die Transformationen, die im Haushalt zwischen Wasserkessel, Kühlschrank und Gefrierfach stattfinden, spiegeln sich auf planetarer Ebene, wenn Wasser aus Gletschern schmilzt, durch Landschaften fließt und zu Wolken aufsteigt. Wasser kann nicht nur zwischen Formen hin und zurück wechseln, es ist auch in ständiger Bewegung: Es fließt im Zickzack Abhänge hinunter (auch das wegen seiner Molekularstruktur) und bildet in Flüssen Strudel. Es steigt in Wellen auf und kräuselt sich im Wind. Es verdunstet unsichtbar in die Luft. In durchsichtigen und undurchsichtigen Wassermassen flimmert Licht. Wasser zeichnet sich also durch Bewegung und Transformation aus.
Das Meer in uns
Es fällt unter anderem deshalb nicht schwer, sich ein «Hypermeer» vorzustellen, das alles Lebendige verbindet, weil Wasser sich in jeder Größenordnung ähnlich verhält. In einem mikrokosmischen Echo planetarer Kreisläufe fließt Wasser selbst durch die kleinsten Organismen in «Hypomeeren», wie wir sie nennen könnten, die alle ihre Teile verbinden. Im menschlichen Körper vermittelt Wasser also wie in größeren Systemen Interaktionen zwischen all den verschiedenen Materialien und Prozessen, die bei der Erhaltung des Lebens eine Rolle spielen. Und wie in der größeren Umgebung hängt die Veränderlichkeit dieser Materialien sowohl von ihrer Molekularstruktur als auch von ihrem Wassergehalt ab. Noch heute, Millionen Evolutionsjahre nachdem Biota den Ozeanen entstiegen, besteht der Körper des Menschen zu rund 67 Prozent aus Wasser. Menschliche Zähne sind in dieser Welt das Gestein mit knapp über 12 Prozent Wassergehalt. Knochen, das Bauholz des Körpers, bestehen zu 22 Prozent aus Wasser. Hirngewebe enthält wie ein fruchtbares, ressourcenreiches Feuchtgebiet rund 73 Prozent Wasser, und Blut – auch wenn es dicker ist als Wasser – besteht zu 80 bis 92 Prozent aus H2O. Rund zwei Drittel des Wassers im menschlichen Körper sind «intrazellulär», befinden sich also in den Zellen. Das letzte Drittel besteht aus «extrazellulären» Flüssigkeiten wie Blutplasma und «transzellulären» Flüssigkeiten, die die Zellen umgeben, sie mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgen und Stoffwechselprodukte abtransportieren. Die Eigenschaften des Wassers als universelles Lösungsmittel sind von zentraler Bedeutung für all diese komplexen chemischen Prozesse. Es unterstützt die Verdauung, indem es Saccharose per Hydrolyse in Glukose und Fruktose zerlegt, die von den Körperzellen genutzt werden können. Es hält Schleimhäute feucht, reguliert die Temperatur, schmiert Gelenke, befeuchtet die Haut und dient in Augen, Wirbelsäule und natürlich in der Gebärmutter als Stoßdämpfer.

Wir alle sind das «Hypermeer». Der Wasserstrom, der unsere eigenen Körper belebt, zirkuliert und belebt gleichzeitig all die winzigen und riesigen materiellen Systeme, von denen wir und andere Arten abhängen.
Wie die meisten von uns vielleicht noch aus dem Biologieunterricht wissen, fließt das Wasser in zwei hydraulischen Systemen durch unseren Körper: Durch ein aktives Blutkreislaufsystem, angetrieben vom Herzmuskel (Blut wird aus dem Herzen über die Arterien bis in die Kapillaren gepumpt und kehrt über die Venen zum Herzen zurück), und ein eher passives Lymphsystem, das von Körperbewegungen abhängig ist. Eine ständige Versorgung mit Wasser ist lebenswichtig: Der menschliche Körper kann nicht viel Wasser speichern und verliert zwei bis drei Liter pro Tag – etwa die Hälfte durch Ausscheidungen und die andere Hälfte durch Atmung und Schwitzen. Ein großer Teil der Wasserversorgung erfolgt über Obst und viele Gemüsesorten, die mit etwa 90 Prozent den höchsten Wassergehalt aller Nahrungsmittel haben. Ohne Wasser sterben Menschen und Tiere innerhalb weniger Tage, auch wenn einige – in zunehmender Qual – mehrere Wochen aushalten können. Übermäßiger Wasserkonsum (wie ihn einige psychische Erkrankungen verursachen) wirkt ebenso verheerend auf den Körper, weil er zu einer gefährlichen Verdünnung des Natriums im Blut (Hyponatriämie) führt und die Zellen überlastet. Eine Überwässerung oder Hyperhydratation hat dieselben Auswirkungen wie Ertrinken in Süßwasser: Die Lunge füllt sich mit Flüssigkeit, der Druck auf Gehirn und Nerven löst Verhaltensweisen aus wie unter Alkoholeinfluss, das Anschwellen von Hirngewebe führt zu Krampfanfällen, Koma und schließlich zum Tod. Ein ausgeglichener Wasserhaushalt ist für alle Lebewesen gleich wichtig. Pflanzen, die oft zu einem großen Teil aus Wasser bestehen, sind ebenso wie Tiere von Flüssigkeitstransportprozessen abhängig. Ohne Wasser welken sie schnell und erfahren einen ähnlichen Zellabbau wie bei Überwässerung.
Ökosysteme, lokale ebenso wie regionale oder planetare, funktionieren nach ähnlichen Prinzipien und brauchen ebenfalls ein bestimmtes Gleichgewicht ihres Wasserhaushalts – die richtige Menge Wasser in der richtigen Geschwindigkeit zur richtigen Zeit. Auf allen Ebenen hängt das Leben spendende Potenzial von Wasser also nicht nur von seinen Eigenschaften ab, sondern auch von einem sorgfältig ausbalancierten Strom seiner Bewegungen. Natürlich sind das die Erklärungen eines globalisierten wissenschaftlichen Modells. Spezifische kulturelle Erklärungen hydrologischer Systeme enthalten ebenfalls Sprünge zwischen Mikro- und Makroprozessen. So ziehen beispielsweise die Kallawaya in den Anden topografische und physiologische hydraulische Systeme zusammen und suchen für das Verständnis der menschlichen Körperfunktionen in ihren heiligen Bergen (allyu) und ihren Wasserläufen nach Inspiration. Auch der Körper hat nach dieser Vorstellung eine vertikale Achse mit Leitungen, durch die Blut und Wasser (sowie Luft und Fett) zentripetal nach innen zum Herzen (sonco) fließen und dann zentrifugal vom Herzen in die Gliedmaßen. Das sonco ist also ein innerer Grundwasserleiter, in dem alle Funktionen – Atmung, Verdauung und Fortpflanzung – kombiniert sind und aus dem sekundäre Flüssigkeiten (Galle, Fäkalien, Milch, Samen, Schweiß und Urin) entfernt werden müssen. Das Verständnis physiologischer und ökologischer Vorgänge und ihres Bedürfnisses nach einem ausgeglichenen Wasserhaushalt lässt sich leicht auf die Vorstellung erweitern, wie Wasser durch andere materielle Systeme fließt. In häuslichen Umgebungen, in individuellen Wohnstätten ebenso wie in erweiterten urbanen Infrastrukturen, muss Wasser herein- und Abwasser hinausgeleitet werden. Im Gemüsegarten wie auf dem kommerziellen Weizenfeld ist die Wasserversorgung in den richtigen Mengen zur richtigen Zeit unverzichtbar für die Nahrungsmittelerzeugung. Auch Industriezweige brauchen in verschiedenen Phasen ihrer Herstellungsprozesse Wasser, und über viele Jahrhunderte haben Gesellschaften ihre materiellen Produkte über Wasserwege und Meere hinweg transportiert.

Pflanzen, die oft zu einem großen Teil aus Wasser bestehen, sind ebenso wie Tiere von Flüssigkeitstransportprozessen abhängig. Ohne Wasser welken sie schnell und erfahren einen ähnlichen Zellabbau wie bei Überwässerung.
Faszination Wasser
[…] Menschen beobachten nicht nur die unterschiedlichen Bewegungen des Wassers
durch die Welt und verknüpfen Konzepte damit, sie machen auch phänomenologische
Erfahrungen mit ihm. In der Welt zu sein, bedeutet, jeden Tag das Wetter zu erleben, und Wetter ist nichts anderes als Wasser in Bewegung, Wasser im Formübergang, aufsteigendes und niedergehendes Wasser, gefrierend und fließend. Das zeigt auf, dass menschliche Interaktionen mit Wasser unmittelbare und oft eindringliche Sinneseindrücke sind. Wir fühlen das Stechen des peitschenden Regens oder die sanftere Berührung von Nebel. Wir aalen uns in warmen Bädern und Duschen, stählen uns innerlich vor dem Sprung in kalte Seen und Meere. In trockenen Klimazonen dürsten wir danach und sehen Gläser voll kühlem Wasser vor unserem inneren Auge. Und wenn wir Wasser trinken, unterscheiden wir zwischen gechlortem Wasser, dem Prickeln von Mineralwasser und dem Schwefelaroma von Heilwasser. Unser Herz schlägt schneller im ozongeladenen Rausch von Wasserfällen oder spektakulären Brechern und wird ruhiger an murmelnden Flussufern und leise an den Strand schlagenden Wellen. Wasser schickt den Geist auf Wanderschaft und befreit die Fantasie; sein fluides Wesen weckt einen Traum von Freiheit. […]
In vielerlei Hinsicht verhält sich Wasser wie eine Lichtquelle. Wassermassen, ob durchsichtig oder undurchdringlich, schimmern und flimmern in ständiger Bewegung und haben eine im wahrsten Sinne des Wortes hypnotisierende Wirkung. Jeder See, Teich oder Fluss ist ein Augenmagnet, der die Menschen dazu bringt, sich hinzusetzen und auf das Wasser zu starren, fasziniert von den glitzernden, tanzenden Lichtern. Zusammen mit der absoluten Unverzichtbarkeit des Wassers in organischen Vorgängen brachte diese numinose Eigenschaft Kulturen dazu, Verknüpfungen zwischen Wasser und spirituellen Wesen herzustellen und in Architektur, Poesie, Kunst, Tanz und Musik die Schönheit des Wassers zu feiern.

Wassermassen, ob durchsichtig oder undurchdringlich, schimmern und flimmern in ständiger Bewegung und haben eine im wahrsten Sinne des Wortes hypnotisierende Wirkung.
Die Idee eines Staudamms
Wohl keine menschliche Erfindung drückt dermaßen umfassend die Macht über die materielle Welt aus wie ein Staudamm. Den Strom der Grundlage des Lebens einzuschränken, sie im Dienste menschlicher Bestrebungen zu kanalisieren – was könnte deutlicher Kontrolle signalisieren? Mehr noch: Die Überzeugung, dass Gesellschaften ein Recht darauf haben, liefert eine ideologische Vision der Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt, die im Kontrast zu früheren, eher kollaborativen Arrangements mit anderen Arten und materiellen Umgebungen steht. Jamie Linton etwa merkt an, dass die Römer zwar prächtige Dämme und Aquädukte bauten, sich aber davor hüteten, den Fluss des Wassers zu behindern. «Das Wasser in den Aquädukten floss frei aus den Brunnen und Bädern Roms durch die Straßen der Stadt in den Tiber. Es gab keine Sperrhähne, keine technischen Einrichtungen, um das Wasser aufzuhalten. Das lag nicht etwa nur daran, dass sie das Ventil nicht erfunden hatten; der Respekt vor dem Wasser verlangte vielmehr, dass sein Fließen eine notwendige Bedingung seiner korrekten Nutzung‘ blieb.»
Das römische Gesetz verbot aktiv das Zurückhalten von Aquäduktwasser: Aqua currit et debet currere ut correre solebat («Wasser fließt und muss so fließen, wie es zu fließen pflegte»). Die Römer waren eindeutig stolz auf ihre Errungenschaften, wie an Frontinus’ berühmter Prahlerei zu erkennen ist: «Wer will, möge diese Vielfalt unverzichtbarer Strukturen, die so viel Wasser transportieren, mit den müßigen Pyramiden oder den nutzlosen, wenn auch berühmten Werken der Griechen vergleichen!»
Doch wie andere Gesellschaften jener Zeit sah auch die römische die Welt und ihre belebenden Kräfte als relativ gleichwertig zur Menschheit. Das galt aber nicht für die Gesellschaften des 20. Jahrhunderts, die Bewässerungstechnik nutzten und wenig Zweifel an ihrem Recht hegten, Wasser mit gewaltigen Dammkonstruktionen aufzustauen, um ihre Fortschrittsziele zu erreichten. Sie beschränkten sich dabei auch keinesfalls auf vermeintlich «unberührte» Landschaften. Viele maßvolle «traditionelle» Bewässerungssysteme, die jahrhundertelang umweltverträglich funktioniert hatten, wurden durch radikaler lenkende Ausgestaltungen ersetzt.

Wohl keine menschliche Erfindung drückt dermaßen umfassend die Macht über die materielle Welt aus wie ein Staudamm. Hier am Beispiel des gefrorenen Reschensees in Südtirol: Ein Stausee, der das Dorf Graun flutete. Nur noch der herausragende Kirchturm erinnert an dessen Geschichte.
Wasserverbrauch und Wasserkämpfe
Der Gebrauch von Wasser für Bewässerung, Landwirtschaft und Industriestrom war ein zentraler Faktor für das exponentielle Wachstum menschlicher Populationen. Ähnlich wichtig war es für die Entwicklung von Wirtschaftssystemen, die auf kontinuierliches Wachstum und Expansion in der Nutzung von Wasser, Land und allen anderen Ressourcen angelegt sind. Vielen brachte das materielle Vorteile, doch die weniger Mächtigen und die nichtmenschlichen Lebewesen, die ebenso abhängig vom Wasser sind, zahlten dafür einen immens hohen Preis. Seit vielen Jahrzehnten hält sich die Idee, dass, selbst wenn heute Wohlstand, Gesundheit und Macht ungleich verteilt sind, mit ausreichend Technologie irgendwann der Umweltschaden minimiert werden kann und dass es allen möglich ist, westliche Konsummuster zu emulieren. Es gibt viele spannende neue Technologien, die eine effizientere Nutzung von Wasser und Ressourcen ermöglichen, und diese sollten wir auch annehmen. Doch die Kombination aus raschem Bevölkerungswachstum und einem nahezu weltweiten Streben nach bestimmten Lebensweisen setzt ein großes Fragezeichen hinter die Fähigkeit selbst der größten technischen Innovationen, langfristig menschliche und ökologische Nachhaltigkeit zu erreichen. Denken wir doch nur einmal für einen Moment daran, wie viel Wasser nötig ist, um etwas herzustellen. In der Mitte der 1990er-Jahre entwickelte der britische Geograf Anthony Allan eine Möglichkeit zu berechnen, wie viel Wasser in Nahrung und materiellen Artefakten steckt (also bei der Herstellung verbraucht wird). In einer Tasse Kaffee stecken rund 140 Liter «virtuelles» Wasser, in 500 Gramm Käse 2500 Liter, in einem Kilogramm Reis 3400 Liter, in einer Jeans 5400 Liter, in einem Auto 50 000 Liter. In Herstellungsprozessen verbrauchtes Wasser wird so nicht nur zu «virtuellem Wasser», sondern hinterlässt auch räumlich lokalisierte «Wasserfußabdrücke», entsprechend dem inzwischen bekannten CO2-Fußabdruck.

In einer Tasse Kaffee stecken rund 140 Liter «virtuelles» Wasser.
Der «blaue Wasserfußabdruck» gibt an, wie viel Wasser aus der lokalen Umgebung entnommen wurde, und der «graue Wasserfußabdruck» zeigt, wie viel Abwasser dieser Prozess erzeugt. Aufgrund der Ströme durch globale Lieferketten sind diese Fußabdrücke extrem ungleich verteilt: Deutschlands blauer Wasserfußabdruck beispielsweise erstreckt sich auf über 200 andere Länder. Und während die Deutschen pro Kopf nur rund 124 Liter Wasser am Tag direkt verbrauchen, verbrauchen sie weitere 5288 Liter pro Tag, wenn man den Wasserbedarf für die Herstellung ihrer Konsumgüter wie Nahrung, Kleidung und anderer Alltagswaren mit einrechnet. Das bedeutet, dass etwa eine Billion Tonnen virtuelles Wasser jedes Jahr international gehandelt wird, oft aus ärmeren trockenen Regionen in wohlhabendere Industriegesellschaften in gemäßigten Klimazonen. Neben teuren Wasserfußabdrücken wird für diesen Wasserverbrauch nicht nur auf Flüsse mit zunehmend schlechter Wasserqualität zurückgegriffen, sondern auch auf begrenzte Grundwasserschichten und das Schmelzwasser schrumpfender Gletscher. Das führte und führt auch noch heute zwangsläufig zu steigender Konkurrenz um die Kontrolle über Wasser und zu erbitterten Kämpfen darum.

Wasser ist die schöpferische, generative See, die das Leben entstehen lässt und erhält, und lebendiges Wasser ist die Substanz der Identität, des Geistes, des Ichs.
Jede kulturelle Gruppe hat ihre eigene Musik und ihre eigenen Bilder, ihre eigenen Arten, sich wieder mit dem Wasser zu verbinden. Es ist von entscheidender Bedeutung, sie in Ehren zu halten und nicht in gedankenlosem, gefühllosem Streben nach materiellem Nutzen zu vergessen. Gesellschaften müssen sich daran erinnern, was Wasser wirklich ist, was es bedeutet und warum es wichtig ist. Wasser ist die fluide Verbindung zwischen der Menschheit und jedem Lebewesen auf der Erde: Wir alle sind das «Hypermeer». Der Wasserstrom, der unsere eigenen Körper belebt, zirkuliert und belebt gleichzeitig all die winzigen und riesigen materiellen Systeme, von denen wir und andere Arten abhängen. Wasser ist die schöpferische, generative See, die das Leben entstehen lässt und erhält, und lebendiges Wasser ist die Substanz der Identität, des Geistes, des Ichs. Wir müssen die utilitaristische Reduktion durch eine Wertschätzung des Wasser als Zeit, Gedächtnis, Bewegung und Fluss ersetzen; als die Gezeiten des Herzens und der Fantasie; als den Stoff echten «Wohlstands», der die Kombination aus Gesundheit und Ganzheit ist. Über ein Gefühl der fluiden Zugehörigkeit macht Wasser das miteinander verbundene und kollaborative Denken und Handeln möglich.
Text: adaptiert und gekürzt aus «Wasser» von Veronica Strang
Fotos: ©Fiona Hofer
Veronica Strang ist verantwortliche Direktorin des Institute of Advanced Study und Professorin für Anthropologie an der University of Durham. Mit «The Meaning of Water» und «Gardening the World: Agency, Identity and the Ownership of Water» hat sie bereits zwei Bücher zum Thema Wasser veröffentlicht.