
Die Welt als «Bibliothek der Farben»
«Zwischen Schwarz und Weiß pulsiert die farbige Erscheinungswelt.» (Johannes Itten, 1961)
Wohin wir auch blicken, überall ist Farbe. Ihre Allgegenwart hat jedoch den erstaunlichen Effekt, dass wir sie allzu oft nicht mehr bewusst wahrnehmen. Doch die subjektiven Wirkungen von Farbe sind nicht zu unterschätzen. Sie kann uns begeistern, stören, beunruhigen oder faszinieren. All diese Widersprüchlichkeiten haben im Lauf der Jahrhunderte Tausende Bücher hervorgebracht, die versuchten, Farbe zu verstehen, zu strukturieren, ihr Verhalten zu beschreiben, sie mit Bedeutung zu füllen und ihre schillernde Vielfalt zu zelebrieren.
Nichts auf der Welt bleibt von Farbe unberührt. Sie ist ein solch fachübergreifendes Phänomen und kann auf 1000 Jahre so umfassender und reich bebilderter Literatur verweisen, dass man damit eine ganze Bibliothek füllen könnte. Tatsächlich existiert eine solche Ressource bereits. Die Colour Reference Library, eine der Sondersammlungen am Royal College of Art in London, enthält fast 2000 Titel, vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Sie deckt eine überwältigende Themenfülle ab – von der Psychologie und Symbolik der Farbe bis zur Geschichte der Pigmente, von Camouflage bis Synästhesie.
Das neue Buch von Neil Parkinson «Bibliothek der Farben» bietet einen Überblick über viele der zahlreichen Schlüsselwerke aus der Geschichte der Farbe und stellt sie und ihren Inhalt in ihrem historischen und ästhetischen Kontext vor. Dieses Buch präsentiert eine Vielzahl an Versuchen, Farbbeziehungen und -hierarchien herzustellen, ihre Gesetze zu ergründen, aus denen Kontrast und Harmonie oder auch das Gegenteil entstehen.
Eine bunte Mischung möchten wir unseren Leser:innen hier bereits in Form eines Blicks ins Buch ermöglichen. Erkunden Sie in unserem nachfolgenden Beitrag, welche Themen und Farben sich zwischen den beiden Buchdeckeln verbergen …
Farbe im Licht
Während der Renaissance und bis ins 17. Jahrhundert hinein übte die katholische Kirche nach wie vor großen Einfluss auf das naturphilosophische Denken bezüglich Physik und Kosmologie aus. Einen besonderen Fürsprecher fand das Establishment in dem französischen Philosophen Rene Descartes (1596–1650). Descartes glaubte, dass das Universum, einschließlich aller Lebewesen, eine riesige Maschine oder eine Reihe von Maschinen sei, die wie ein Uhrwerk funktionierten, und Gott spiele die Rolle des Chefingenieurs. Descartes versuchte zu zeigen, dass auch Licht und Farbe mechanischen Prinzipien folgen, so wie die Linse des Auges ähnlich wie ein optisches Gerät funktioniert. Descartes fügte der Erklärung der Farbentstehung eine neue Variable hinzu, damit sie in sein mechanistisches Modell passte: die Geschwindigkeit. Er glaubte, dass das Licht aus sich drehenden Teilchen bestehe und dass Farbe immer dann erscheine, wenn sich diese Teilchen schneller drehen und durch Partikel («globules») im Äther (=Weite) hindurchgehen würden. Auch auf das bereits bekannte Prismaexperiment ging er ein, bei dem ein dreieckiger Glasblock scheinbar eine Reihe von Farben erzeugt, wenn Licht durch ihn hindurchscheint. Er war der Meinung, dass das Prisma dem reinen Licht etwas hinzufüge und dass diese Veränderung des Lichts die Farben erzeuge. […]
In England, wo der protestantische Glaube verbreitet war, gab es jedoch Bestrebungen, einige der von den Katholiken auf dem europäischen Festland vertretenen Modelle auszuhebeln. Eine der größten Persönlichkeiten in der Geschichte der Wissenschaft nahm gegen Descartes’ Analyse des Lichts und der Farben Stellung: Isaac Newton (1643–1727). Auch Newton spürte eine Verbindung zwischen Licht und Gott und der Gedanke, in den Geist Gottes zu blicken, verunsicherte ihn. Aber Licht, Farbe und das Sehen faszinierten ihn so sehr, dass er weiter forschte, um Descartes’ Uhrwerkmodell zu widerlegen und überzeugendere Erklärungen zu finden. Schon in jungen Jahren begann er mit seinen optischen Experimenten und legte dabei eine geradezu ungesunde Besessenheit an den Tag: Um zu überprüfen, ob das Sehen durch äußeren Druck auf die Augen ausgelöst wird, steckte er sich eine stumpfe, hölzerne Durchziehnadel zwischen Augapfel und Augenhöhle. Er war entzückt, dass der Druck auf seine Linse bunte, regenbogenartige Kreise in seinem peripheren Blickfeld hervorrief. Zum Glück überstand sein Auge das Experiment unbeschadet. Im Zusammenhang mit Newtons berühmten Entdeckungen denken viele vermutlich als Erstes an den Apfel, der vom Baum fiel und damit Newton vor Augen führte, dass es so etwas wie die Schwerkraft geben muss. Aber viele werden sich auch an sein berühmtes Prismaexperiment erinnern, in dem er auf spektakulärste Weise das Studienobjekt Farbe in seinem Haus in Szene setzte. Newton schloss die Fensterläden, bohrte ein Loch hinein, damit das Sonnenlicht in einem schmalen Strahl eindringen konnte, und positionierte ein Prisma genau in den Strahlengang. Nachdem er herausgefunden hatte, in welchem Winkel er das Prisma halten musste, erschien ein leuchtendes Farbspiel an der Wand. Newton bemerkte, dass die Reihenfolge der Farben mit dem Regenbogen übereinstimmte. Den geisterhaften Farbfächer nannte er «Spektrum» (engl. spectre), wobei er sich auf die ursprüngliche Wortbedeutung «Erscheinung» beziehungsweise «Geistererscheinung» bezog.

Isaac Newton performing his crucial prism experiment – the ‚experimentum crucis‘ – in his Woolsthorpe Manor bedroom. Acrylic painting by Sascha Grusche (17 Dec. 2015). ©Wikimedia Commons
Übrigens hatte sich Newton dieses Experiment nicht selbst ausgedacht – Descartes hatte es bereits beschrieben und seine eigene Erklärung gefunden. Newton ging jedoch etwas anders vor und kam zu dem Schluss, dass die Farben nicht erscheinen, weil das Prisma dem Licht etwas hinzufügt. Im Gegenteil: Das Prisma, so vermutete er richtig, krümmt die Strahlen und fächert die Farben auf, aus denen sich das reine weiße Licht von Anfang an zusammensetzt. «Meine Beobachtungen, obwohl paradox, sind klar», schrieb er. «Jede einzelne Farbe ist rein. Das weiße Licht ist die Mischung.»
Dies war eine neue, wenngleich kontraintuitive Erklärung für das Phänomen. Gleichzeitig betrachtete Newton das Prismaexperiment als Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen, mit denen er die Richtigkeit seiner Theorie beweisen wollte. Später nannte er es daher sein «experimentum crucis». Nachdem Newton das Licht in seine Spektralfarben zerlegt hatte, leitete er das rote Licht wiederum durch ein Loch in einem Wandschirm. Was würde passieren, wenn er nun ein weiteres Prisma in den roten Lichtstrahl stellte? Nach Descartes würde sich die Farbe weiter verändern und vielleicht in noch mehr Farben aufspalten. Aber das rote Licht leuchtete unverändert weiter, es war unteilbar. Newton hatte recht: Prismen fügen dem weißen Licht nichts hinzu, sie bringen lediglich die essenziellen Bestandteile hervor.
Newton fasste seine Experimente zusammen und beschrieb sie, wie Ibn al-Haitham Jahrhunderte zuvor, so detailliert und klar, dass seine Kollegen sie wiederholen und die Ergebnisse bestätigen konnten. Seine «neue Theorie des Lichts und der Farben» schickte er 1672 an die Royal Society. Im Jahr 1703 wurde er Präsident dieser Institution und veröffentlichte seine gesammelten Werke zu diesem Thema im darauffolgenden Jahr unter dem Titel Opticks: or, A Treatise of the Reflexions, Refractions, Inflexions and Colours of Light.
Farbe im Handel
Wie kostspielig Farbe sein kann, zeigt die lange Geschichte des Purpurs. In der griechischen und römischen Antike wurde der luxuriöse Farbstoff, Tyrischer Purpur genannt, aus dem Schleim von Meeresschnecken gewonnen. Das Verfahren war so teuer, dass die Farbe zum Synonym für Reichtum wurde. Der im Ton ähnliche künstliche Farbstoff Mauvein, den der junge Chemiker William Perkin 1856 per Zufall erfand, war das genaue Gegenteil. Er war so leicht herzustellen, dass die Farbe Mauve in der Mode bald allgegenwärtig war – scherzhaft wurde die neue Mauve-Manie gar mit einem Masernausbruch verglichen. Da das Verfahren Perkins geistiges Eigentum war, machte ihn die Farbe schnell zum Millionär. Als in der Folge Tausende neuer chemischer Farben auf den Markt kamen, wurde Farbe zur begehrten kommerziellen Ware, als verführerische Beschichtung von Produkten oder als etwas, das Textilfasern im Stil der jeweiligen Mode färben konnte. Ein Jahrhundert später, im Jahr 1956, resümierte der Farbberater Faber Birren, dass sich in jüngster Zeit die Verwendung von Farbe bei Konsumgütern enorm ausgeweitet habe. Amerikanische Häuser, innen wie außen, wurden ausgiebig mit Farbe renoviert. Kunststoffe und andere synthetische Materialien verliehen unzähligen Produkten Farbe, die früher farblos oder dezent gefärbt waren.
Als Farbberater war Birren ein bedeutender Vertreter eines brandneuen Berufszweigs: einer Gruppe von Spezialist:innen, die Unternehmen über den wirksamen Einsatz von Farben berieten, um attraktive Produkte zu entwickeln und den Absatz zu fördern. Ermöglicht wurde diese Strategie durch Fortschritte in der Technologie und der Psychologie: Immer mehr Farblinien kamen auf den Markt, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als sich die Vorliebe der Verbraucher:innen für Farben in bewusste Wünsche und unbewusste Sehnsüchte verwandelte. Farbe diente den Unternehmen zu mehreren Zwecken. Sie konnte z.B. ein Verkaufsargument sein, da sie alltägliche Gegenstände attraktiver machte, und sie konnte ein Zeichen des Geschmacks sein. […]
Gedruckte kommerzielle Farbstandards verbreiteten sich und Unternehmen produzierten bunt leuchtende Musterbücher und Broschüren, um ihre eigenen Farbpaletten anzupreisen. Viele enthielten Warenmuster wie Seidenbänder, Wolle, Teppichflor, Strümpfe, mit Haushaltsfarben bemalte Streifen und sogar Seifenstücke. Textilproben wurden in verschiedenen Ausführungen präsentiert, um zu zeigen, wie die Farben auf unterschiedlichen Stoffarten wirkten. Farbkarten für Haushaltsfarben gab es in matten und glänzenden Varianten. Auch um Farbe als eigenständiges Produkt zu verkaufen, wurden Muster produziert, die veranschaulichten, welche Möglichkeiten die ganze Bandbreite der verbesserten Farbstoffe bot. […]

Smart Hose Shades (um 1900) des transatlantischen Unternehmens Read Holliday enthielt Farbmuster und Rezepturen für Farbstoffe für Strumpfwaren. Die gefärbten Strumpfmuster waren auf die Seiten aufgeklebt und hinter beinförmigen Abdeckungen verborgen.
Gegen Ende der 1960er-Jahre wurden die Farben kühner, greller und für die jugendliche Gegenkultur versinnbildlichten sie das neue Selbstbewusstsein. Diese Trends griff der Farbberater Eric P. Danger in seinem Buch Using Colour to Sell (1968) auf. Der Autor baute auf Birrens langjährigen Forschungen auf, entwarf aber für die britische Industrie ein neues Konzept, das dem jugendlichen Empfinden seiner Zeit Rechnung trug. Jahrzehntelang war man davon ausgegangen, dass Frauen den allgemeinen Geschmack prägten und die natürliche Zielgruppe für farbenfrohe Mode und Waren waren. Nun aber begannen sich die Dinge zu ändern. Danger beschrieb eine Welt, in der Männer plötzlich rosa Hemden trugen und ihre eigenen Toilettenartikel kauften: «Der junge Mann von heute ist oft bunter als seine Schwester.» Für die Vermarktung war dieser kulturelle Umsturz der Geschlechterstereotypen nur insofern von Bedeutung, als dass er die Aussicht auf höhere Gewinne bot.
Farbe war für alles und alle da, besonders für die «Frischvermählten», die sich nun sogar zum Kauf von Möbeln in ausgefallenen Farben hinreißen ließen. Vor allem Wegwerfprodukte ermutigten die Käufer:innen, gewagte Entscheidungen zu treffen. Sie wussten: Falls bald schon andere Farben angesagt waren, würden sie sich einfach etwas Neues kaufen. Und das wussten die Unternehmen ebenfalls. Aber nicht alle farbenfrohen Entwicklungen hatten Erfolg. Danger erinnerte an Versuche, farbiges Brot passend zu einer Reihe von farbigem Zucker zu verkaufen – ein kommerzielles Desaster, denn die bunten Brotscheiben wirkten auf die Kundschaft eher abschreckend als verlockend.
Ende des 20. Jahrhunderts hatten sich Industriestandards wie RAL für Lacke und Kunststoffe und Pantone® für Druckerzeugnisse durchgesetzt, deren Farbdefinitionen weit über die jeweiligen Branchen hinaus bekannt wurden. Die Verbraucher:innen verstanden zunehmend die Konzepte von Marken- und Saisonfarben und die Farbrevolution setzte sich fort, weil die Technologie es dem Handel ermöglichte, der aktuellen Mode und dem Geschmack zu folgen. Während einige Bereiche den Farbeinsatz reduzierten, etwa weil die Autoindustrie zu neutralen Farbtönen zurückkehrte, nahm Farbe in anderen Bereichen – von Küchengeräten bis hin zu Kinderwagen – deutlich zu. Aber selbst in der superbunten Konsumwelt behielten einige Grundprinzipien ihre Gültigkeit. Die Konsument:innen blieben bei ihrer Vorliebe für einfache, kräftige Farben und für Farbfamilien. Wie immer bestand die Kunst für die Unternehmen darin, das richtige Produkt in der richtigen Farbe zum richtigen Zeitpunkt auf den Markt zu bringen und vorherzusehen, was sich durchsetzen würde. In Farbprognosen wurden fundierte Vermutungen angestellt und das Farbmarketing versuchte, den Publikumsgeschmack zu beeinflussen, aber letztlich blieb es ein Glücksspiel. […]
Farbe in der Natur
In unseren Tagen, mit einer unbegrenzten Auswahl an Farben von Hot Pink und Neongelb, vergisst man leicht, wie künstlich dies alles ist. Fast die gesamte Menschheitsgeschichte über beschränkte sich die Polychromie auf die prunkvolle Farbenpracht der Natur. Als die Versuche, alle bekannten Farben zu katalogisieren, im 18. Jahrhundert Fahrt aufnahmen, glaubten einige Gelehrte sogar, dass die Natur bereits sämtliche Farben enthalte, die für das menschliche Auge sichtbar seien – man müsse sie nur noch auflisten. Obwohl in der Natur gedämpftes Grün und Blaugrau überwiegen, hat sie ein Händchen für dramatische Kontraste: Seit jeher ist ein Farbklecks von roten Beeren vor grünem Laub Warnung oder Versuchung. Schon früh wurden Pigmente und Farbstoffe aus Tieren, Pflanzen und Mineralen gewonnen. Aus Lehmerde abgebauter Ocker war für Kulturen weltweit ein elementares Pigment, das um 17 000 v. Chr. in den Höhlenmalereien von Lascaux ebenso zur Anwendung kam wie bei den Ritualen im alten Ägypten oder bei den indigenen Völkern Australiens und Nordamerikas.
Mit jeder neuen Entdeckung im Laufe von Jahrtausenden erweiterte sich die Farbpalette. So verfügte man im 17. Jahrhundert bereits über zahlreiche Rottöne, die man aus Cinnabarit (Zinnober) oder Insekten (Cochenilleschildlaus) herstellte. Die Natur lieferte eine nie versiegende Fülle an Farben, die sich der Mensch für seine Zwecke zunutze machte. Im 18. und 19. Jahrhundert gab es neben der steten Zunahme botanischer Kenntnisse über die Natur eine Revolution, was die Beschreibung der Farben von Flora und Fauna betraf. Expert:innen der Botanik waren oft zwangsläufig Vorreiter:innen für die Nomenklatur der Farben. […]
Bekannt war beispielsweise der Insektenforscher Moses Harris (1730–um 1787). Neben zwei revolutionären Farbkreisen, die in seinem Werk Natural System of Colours (um 1766) enthalten sind, entwarf er später ein weiteres Farbrad in Exposition of English Insects (1776), um seinen Leser:innen die Färbungen der von ihm beschriebenen Insekten vor Augen zu führen. Ausgehend von reinen Farbtönen in der Mitte (eher Schmetterling als Käfer) enthält die Palette in vier konzentrischen Kreisen nach außen hin immer schmutzigere, «natürlicher» wirkende Farben wie Creme und Nussbraun. Viele Leser:innen schnitten sich die Seite mit dem Farbrad aus, um ein transportables Referenzwerkzeug zur Hand zu haben. Eine Farbe aus der freien Natur richtig wiederzugeben war schwierig, und die Elemente wendeten sich oft gegen die tapferen Pflanzenzeichner:innen. Eine Palette von leuchtenden Blüten und grünem Laub war im Freien nicht leicht festzuhalten und Proben aus fernen Ländern, die man ihrem natürlichen Ökosystem entrissen hatte, verwelkten oft schon auf dem Heimweg.
Der vielleicht größte botanische Illustrator aller Zeiten, Ferdinand Bauer (1760–1826), hatte eine simple Lösung dafür parat: Er schuf Arbeitsskizzen ohne Farbe und vollendete sie erst, wenn er sicher zu Hause angekommen war. Auf Expeditionen nach Griechenland und in die Levante begleitete Bauer den Oxforder Botanikprofessor John Sibthorp, um Exemplare von Blumen zu sammeln, und schuf später auf der Grundlage seiner Zeichnungen und Notizen das prächtige zehnbändige Werk Flora Graeca (1806–1840). Er entwickelte ein detailliertes Zahlensystem zur Aufzeichnung bestimmter Farben von Exemplaren, die er in freier Natur skizziert hatte, um sie im heimatlichen Atelier mit einer Reihe von Tabellen vorab gemalter Exemplare abzugleichen. Grob gesprochen handelte es sich um Malen nach Zahlen, doch Bauers System fand leider keinen rechten Zuspruch.

Eine Farbfamilie (Grautöne) aus Patrick Symes Werner’s Nomenclature of Colours (1814) – auf Deutsch veröffentlicht als Werners Nomenklatur der Farben (2018). Jede der 108 Farben im Buch war jeweils dem Tier-, Pflanzen- und Mineralreich zugeordnet. ©Wikimedia Commons
Größeren Einfluss hatte Patrick Syme (1774–1845) aus Edinburgh, der sich selbst als Blumenmaler bezeichnete: Er unternahm den Versuch, eine Taxonomie der Farben zu erstellen. 1814 veröffentlichte er ein Werk mit dem Titel Werner’s Nomenclature of Colours, das die Welt der Natur in 108 Farben einzufangen wagte. Wie der Titel vermuten lässt, war Syme nicht der einzige Urheber des Werks. Zur Bestimmung von Mineralen aufgrund von Aussehen und Färbung griff er auf ein Klassifizierungsschema des Mineralogen Abraham Gottlob Werner aus dem 18. Jahrhundert zurück, das er für seine Zwecke anpasste. In Werners Buch Von den äußerlichen Kennzeichen der Foßilien (1774) wurden 54 Farbtöne von acht «Hauptfarben» (Farbfamilien) verbal beschrieben, aber nicht abgebildet, obwohl der Autor für seine Studierenden eine Sammlung aus Musterstücken zu Vergleichszwecken bereitstellte. Ungewöhnlich war, dass er Grau als eigenständige Hauptfarbe mit verschiedenen Grautönen behandelte, weil sie in Gestein häufig vorkommt. Diese ursprüngliche Nomenklatur war einigermaßen nützlich, wurde jedoch einige Jahrzehnte später von Syme völlig umkonzipiert. Er fügte den Hauptfarben Violett und Orange hinzu und erweiterte die Klassifizierung noch auf einer anderen Ebene, indem er nicht nur bei Steinen entsprechende Farben entdeckte, sondern gleichartige in bis zu drei «Reichen» der Natur, die der Taxonom Carl von Linné in Systema Naturae (1735) als Tier-, Pflanzen- und Mineralienreich klassifizierte. In Tabellen wurden den Farben und Farbnamen ein bis drei Beispiele aus den jeweiligen Reichen zugeordnet. In den Spalten für Tiere, Pflanzen und Minerale fanden sich unzählige Paarungen zwischen abstrakten Farben und ihren natürlichen Erscheinungsformen. Viele Bezeichnungen muten heute ungewollt poetisch an. Beispiel 7, «Milchweiß», manifestierte sich im «Weiß des menschlichen Augapfels», in der «Rückseite der Blütenblätter des blauen Leberblümchens» und im «Opal». Anderswo entdeckte Syme Entsprechungen zur Großen Schwarzen Wegschnecke, Lauchblättern im Winter, Gallensteinen oder Eisbären. Jede Farbe hatte ihre Formel: «Milchweiß ist Schneeweiß gemischt mit etwas Berliner Blau und Aschgrau.» Den größten Raum nahmen Blau und Rot ein, doch es gab auch 16 Grüntöne, darunter Saftgrün, Pistaziengrün und Olivgrün, die das vielfältige Grün der Natur widerspiegelten. Außerdem identifizierte Syme unter Bezugnahme auf das Kreislaufsystem sowohl arterielle als auch venöse Rottöne und berücksichtigte das unterschiedliche Aussehen von hellrotem sauerstoffreichem und dunklerem sauerstoffarmem Blut. Die Farben selbst auf einer Buchseite wiederzugeben verlangte akribische Arbeit. Einzeln per Hand bemalte Abschnitte wurden in Streifen und dann in winzige Quadrate zerschnitten, die man aufklebte. So wurde die Farbenfülle auf 13 Tafeln zusammengefasst. Doch trotz seines breiten Ansatzes konnte Syme nicht alles erfassen. Als er Werners ursprüngliche Farbpalette erweiterte, befreite er das Schema von seinen mineralogischen Wurzeln, da es im Mineralreich für einige Farben schlicht keine Beispiele gab. Viele Zellen seiner Tabellen blieben leer. Im Tierreich schienen keine tintenschwarzen oder pflaumenvioletten Kreaturen zu existieren. Die weißen Flecken verliehen dem Projekt jedoch einen Hauch von Verheißung, als ließen sich die Lücken durch weitere Erkundung füllen – ähnlich den fehlenden Elementen, die Mendelejew später in seinem Periodensystem vorhersehen sollte.

Eine Farbfamilie (Gelbtöne) aus Patrick Symes Werner’s Nomenclature of Colours (1814). ©Wikimedia Commons
Das Buch war so nützlich, dass es in mehreren Disziplinen rasche Verbreitung fand. Professor Robert Jameson, der ein Schüler Werners wie auch ein Bewunderer Symes war, drängte die Pathologen und Hydrografen seiner Zeit, es zu verwenden, und meinte, mit ihm ließe sich alles, von Wundbrand bis hin zu Meteoren, beschreiben. Besondere Berühmtheit erlangte es rückblickend, weil Charles Darwin auf seinen Reisen mit der HMS Beagle (1831–1836) ein Exemplar dabeihatte. Offenbar in Anlehnung an Syme beschrieb Darwin das «beryllartige Blau» von Gletschern sowie das «Französisch-Grau» und «Hyazinthrot» eines Tintenfischs. Symes Terminologie und Beispiele versprachen Artkonstanz und Beständigkeit in einer Natur des Aufblühens und Vergehens. Alle Versuche, die natürliche Welt in ihrer Gänze einzufangen, waren offensichtlich zum Scheitern verurteilt. Syme war jedoch immer bewusst, dass seine mehr als 100 Farben nicht ausreichten und Darwins beryllartiges Gletscherblau nur die Spitze des Eisbergs war. Stattdessen hoffte er, seine Auswahl werde neue Maßstäbe für das allgemeine Wissen über Farben setzen und es allen Menschen ermöglichen, in der freien Natur Farben zu erkennen und zu benennen.
Neil Parkinson leitet das Archiv und die Sammlungen des Royal College of Art in London und ist dort unter anderem für die Entwicklung der renommierten Colour Reference Library zuständig.