
Im Takt der Natur: Der fallende Wal
Das lang ersehnte Werk «Im Takt der Natur» von Helen Pilcher ist endlich da!
Darin wird in rund 100 Grafiken die bemerkenswerte Bandbreite der langen und kurzen Zeitspannen in der Natur beleuchtet und unter die Lupe genommen.
Im nachfolgenden Beitrag setzen wir uns mit der ökologischen Zeitspanne der Verwesung von Walen auseinander. Das mag einigen von Ihnen vielleicht etwas despektierlich erscheinen, doch als Sachbuchverlag mit Schwerpunkt Natur scheuen wir uns nicht, uns auch mit solchen Themen auseinanderzusetzen.
Der Tod gehört zum Leben dazu. Und gerade in dieser Hinsicht kann ein Tod Leben für eine Vielzahl von diversen anderen Lebewesen bedeuten.
Welche das sind, erfahren Sie in den folgenden Zeilen …
Was geschieht mit einem toten Wal?
Mit einer Länge von 30 m oder mehr ist der Blauwal das größte bekannte Tier. Einzelne Exemplare werden bis zu 90 Jahre alt, aber wenn sie sterben, können sie in der Nähe befindliche Lebensformen für einen ebenso langen Zeitraum ernähren. Der Körper des Wals bietet den Kreaturen der Tiefsee mit einem Mal ein überreiches Nahrungsangebot, und um den Kadaver entwickelt sich ein neues Ökosystem. Nach Schätzungen von Wissenschaftler:innen befinden sich zu einem gegebenen Zeitpunkt weltweit rund 700 000 Kadaver der neun größten Walarten im Zustand der Verwesung. Jeder ernährt etwa bis zu 400 verschiedene Spezies. Es ist nicht leicht, tote Wale zu finden oder zu untersuchen. Darum lassen Wissenschaftler:innen gestrandete Wale manchmal absichtlich auf den Meeresgrund sinken, um entsprechende Untersuchungen durchführen zu können.
Ein Walkadaver durchläuft folgenden Prozess, bis er schließlich als Walfall unten am Meeresgrund landet.
Aufblähen
Dieser erste Schritt nach dem Versterben eines Wals dauert einige Stunden bis Tage.
Mit einsetzender Verwesung blähen Fäulnisgase den Körper auf, der noch eine Weile an der Wasseroberfläche treiben kann. Haie und Meeresvögel tun sich an ihm gütlich.
Sinken
Dieser Prozessabschnitt nimmt Tage bis Wochen in Anspruch.
Der Kadaver beginnt zu sinken. Mobile Aasfresser wie Schleimaale und Eishaie reißen auf seinem Weg nach unten große Stücke «Blubber» (von engl. blubber, bezeichnet Fettschicht von Walen und Robben) aus ihm heraus. Schließlich landet er auf dem Meeresboden und wird nun als Walfall bezeichnet.
Walfall
Ein Walfall hat vier unterschiedlich lange und sich überlappende Phasen. Unten sind sie vom Kopf bis zum Schwanz in vier Phasen dargestellt.
PHASE 1: Mobile Aasfresser:innen
einige Monate bis 5 Jahre
Aasfresser:innen der Tiefsee, etwa Grenadierfische, Krebse und Tintenfische, kommen von überall her, um sich satt zu fressen.
PHASE 2: Opportunist:innen
einige Monate bis 2 Jahre
Verbleibende Weichteile werden gefressen. Krustentiere und Würmer besiedeln die Knochen und ernähren sich von den nährstoffreichen Sedimenten rund um den Kadaver.
PHASE 3: Auflösung der Knochen
bis zu 100 Jahren
Bakterien, Knochenfresser-Würmer (Osedax), Muscheln und andere Organismen bauen das in den Knochen befindliche Fett ab. Dabei wird Schwefelwasserstoff freigesetzt, von dem sich andere Organismen ernähren.
PHASE 4: Riffstadium
Dauer unbekannt
Die verbleibenden Knochenfragmente ohne organisches Material, die aber noch Mineralien enthalten, werden von Suspensionsfresser:innen wie Weichtieren besiedelt.
Die Vorteile einer Seebestattung
Schätzungen zufolge ließen Walpopulationen vor Einsetzen des kommerziellen Walfangs im 11. Jahrhundert pro Jahr zwischen 190 000 und 1,9 Mio. Tonnen Kohlenstoff auf den Meeresboden sinken. Das entspricht 40 000 – 410 000 stillgelegten Autos pro Jahr.
Werden Wale jedoch getötet und verarbeitet, statt sie auf natürlichem Wege sterben und versinken zu lassen, wird der Kohlenstoff in die Atmosphäre freigesetzt. Das ist dasselbe Prinzip wie bei Bäumen: Lässt man Totholz vor sich hin rotten, bleibt das darin gespeicherte Kohlendioxid länger enthalten. Zudem stellt Totholz eine wichtige Nahrungs- und Lebensgrundlage für diverse Lebewesen dar. Auch wenn Holz weiterverarbeitet wird, wie beispielsweise zu Möbeln, dann bleibt das Kohlendioxid im Holz eingeschlossen. Verbrennt man jedoch Bäume, gelangt das über Jahre gespeicherte CO2 in unsere Umwelt und belastet somit unsere Atmosphäre und den Planeten, nicht zu vergessen, dass es sich bei CO2 um eines der bekanntesten Treibhausgase überhaupt handelt.
Aber zurück zu den Walen: Man geht davon aus, dass der Walfang im 20. Jahrhundert zur Emission von zusätzlichen 70 Mio. Tonnen Kohlendioxid geführt hat. Wale können den Kampf gegen den Klimawandel unterstützen, wenn die Menschen sie nur ihrer Natur gemäß leben und sterben ließen. Der Grund der Tiefsee ist kalt, dunkel und weitgehend karg. Organismen leben dort überwiegend von herabsinkendem toten und verrottenden Material, etwa toten Tiere und Pflanzen, Sand, Ruß und Fäkalien, die reich an Kohlenstoff und Stickstoff sind. Man spricht von «Meeresschnee», weil die fallenden Partikel ein wenig wie Schneeflocken aussehen. Auf dem Meeresboden vermischen sie sich mit der Schlammschicht, die rund drei Viertel des Tiefseebodens bedeckt.
In dieser nährstoffarmen Umgebung bedeutet ein Walfall ein wahres Festmahl. Ein einziger verwesender Wal liefert den gleichen Gehalt an Kohlenstoff wie Meeresschnee, der im Lauf von 2000 Jahren auf ein 50 m2 großes Stück Meeresboden fällt.
Das faszinierende Leben der Knochenfresser-Würmer
«Knochenfresser-Würmer» (Osedax) wurden erstmals 2002 an einem Walfall in 3000 m Tiefe in der Monterey Bay, Kalifornien, entdeckt. Sie besitzen weder Mund noch Darm. Zur Nahrungsaufnahme bohren sie sich mit einem spezialisierten Wurzelgewebe in Knochen hinein. Bekannt sind mindestens 26 Arten, darunter Osedax mucofloris, «knochenfressende Rotzblume». Ihre «Blüten» sind zarte Gewebefedern, die durchs Wasser wehen und Sauerstoff absorbieren. Frisch geschlüpfte Larven überleben 10 Tage ohne Nahrung, was ihnen Zeit gibt, umherzutreiben und einen anderen Walfall zu besiedeln.

©Helen Pilcher
Dr. Helen Pilcher ist Wissenschaftsjournalistin und Moderatorin. Sie hat mehrere Bücher geschrieben und für verschiedene Zeitschriften wie Nature, The Guardian und New Scientist gearbeitet. Eines ihrer Bücher wurde 2020 von der Times zum Wissenschaftsbuch des Jahres gewählt. Sie lebt in Großbritannien.