
Praxishandbuch Stadtnatur: Flora und Fauna mit einfachen Maßnahmen fördern
Urbane Lebensräume sind für die Biodiversität in der Schweiz von großer Bedeutung – sie sind im Mittelland sogar die neuen Hotspots der Artenvielfalt geworden.
Aber wie können diese nicht nur erhalten, sondern auch gestaltet und erweitert werden, damit sie längerfristig für Tiere und Pflanzen attraktiv bleiben? Und was kann jede Bürgerin, jeder Bürger dazu beitragen? Das zeigen Sabine Tschäppeler und Andrea Haslinger im «Praxishandbuch Stadtnatur».
Dabei betrachten sie beispielsweise besondere Standortbedingungen oder nennen Kriterien zur Auswahl geeigneter Pflanzen. Konkrete Schritte und Checklisten zeigen, wie verschiedenste Lebensräume angelegt und gepflegt werden müssen, damit sie nachhaltig einen Wert für Flora und Fauna haben.
Im Folgenden Beitrag zeigen wir an den Beispielen Krautsaum und Steinhaufen, wie einfach es sein kann, der Natur auch in der Stadt mehr Raum zu ermöglichen. Zudem geben wir zum Schluss mit ein paar Gestaltungsanregungen und -beispielen jede Menge Tipps für einen gepflegt aussehenden Naturgarten.
KRAUTSAUM
Krautsäume sind hohe, krautige, extensiv gepflegte Vegetationsstrukturen entlang von Straßen, Mauern, Zäunen und Hecken. Sie bilden den Übergang zwischen Gehölzen und Offenland oder sind wichtige ökologische Vernetzungskorridore. Die arten- und blütenreiche Vegetation dient als Nahrungsquelle und Rückzugsort für viele Tiere. Dank geringem Pflegeaufwand – einmal jährliche Mahd im Frühling – ist der Krautsaum ein dankbarer Lebensraum mit großer ökologischer Wirkung.
- Brennesselsaum zwischen Trampelpfad und Gebüsch (Bremgarten bei Bern)
- Krautsaum als Strassenbegleitgrün (Josefstrasse, Zürich)
- Krautsaum zwischen unversiegeltem Weg und Hecke (Bäckereiweg, Bern)
Säume bilden sich von selbst, wenn man solche Übergangsbereiche maximal einmal jährlich, und zwar erst im März, mäht. Artenreich und dekorativ werden sie jedoch erst, wenn sie mit an den Standort angepassten Wildstauden ergänzt werden. Die verblühten Pflanzen bleiben über den Winter stehen und bilden einen wichtigen Zufluchts- und Überwinterungsort für viel Insekten. Insbesondere Schmetterlingsraupen verpuppen sich gerne an den vertrockneten Pflanzenstängeln.
So wird der Krautsaum für Tiere und Pflanzen wertvoll:
- Ökologische Vernetzung: Ein linearer Grünstreifen, der nur einmal jährlich im Frühling (März) gemäht wird, dient als nächtlicher Wanderkorridor und Tagesversteck für Kleintiere. Er lässt zudem Regenwasser versickern.
- Breite: Ein mind. 1 m (besser 3 m) breiter Streifen entlang einer Hecke, Mauer oder eines Wegs kann sich zu einem Saum entwickeln, welcher der Tierwelt vielfältige Nahrungsquellen, Verstecke, Nist- und Eiablageplätze bietet.
- Nachbarschaft zu anderen Lebensräumen: Der Saum grenzt wenigstens an einer Seite an einen naturnahen Lebensraum. Die Verzahnung mit angrenzenden Lebensräumen ist besonders wichtig für Tierarten, die mehrere Lebensräume nutzen.
- Standortangepasste Pflanzenvielfalt: Ein artenreicher Krautsaum mit an den Standort angepassten Pflanzenarten bietet vielfältige Nahrungsquellen für weitere Tierarten sowie Winterquartiere für Insekten in Pflanzenstängeln an.
- Sonniger Standort: An einem sonnigen, nährstoffarmen Standort z.B. an der Südseite einer Hecke oder Mauer haben sonst konkurrenzschwache Pflanzenarten einen Vorteil. Vom sonnigen Standort profitieren auch zahlreiche Insekten.
Im Buch erfahren Sie außerdem. wie Sie einen Krautsaum anlegen, wie Sie diesen Pflegen und was es bezüglich Kosten und gesetzlichen Grundlagen zu beachten gibt.
STEINHAUFEN
Steinhaufen waren lange ein Nebenprodukt der landwirtschaftlichen Arbeit: Durch das Pflügen von Ackerflächen werden laufend größere Steine an die Oberfläche befördert, die aufgesammelt und am Feldrand zu Lesesteinhaufen aufgeschichtet werden. Dadurch entstanden früher wertvolle Strukturelemente für die Biodiversität und zur Vernetzung von Reptilienlebensräumen. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte wurden viele dieser Lesesteinhaufen im Mittelland als «Störelemente» entfernt.

Steinhaufen in Wiese (Grenzacherstrasse, Basel)
Diese Tiere können wir mit Steinhaufen fördern
Steinhaufen werden von zahlreichen Tierarten genutzt. Sie dienen als Versteck und Sonnenplatz für Reptilien, aber auch kleine Säugetiere wie Igel oder Hermeline können darin Unterschlupf finden. Schmetterlinge nutzen die von der Sonne aufgewärmten Steine als Paarungsplatz, Winter- und Nachtquartier. Wenn die Steine mit Algen, Moosen oder Flechten bedeckt sind, profitieren davon Kleinschmetterlinge und Schneckenarten.
Einige Beispiele für Tiere, welche mit Steinhaufen gefördert werden können:
- Hausspitzmaus
- Hermelin
- Erdkröte
- Fadenmolch
- Blindschleiche
- Steinhummel
- Steinhaufen mit Saum auf Wiese und angrenzend an Strauch (Bethlehempark, Bern)
- Tiefreichende Steinlinse (Westside, Bern)
Das macht den Steinhaufen wertvoll:
- Besonnter Standort: An sonnigen, windgeschützten und ungestörten Stellen errichtet, bietet ein Steinhaufen Versteck, Sonnenplatz und eventuell sogar ein Winterquartier für Reptilien, zahlreiche Insekten und andere Kleintiere.
- Hohlräume: Damit Hohlräume entstehen, die von verschiedenen Tierarten genutzt werden können, sollte ein Großteil der verwendeten Steine zwischen 20-40 cm groß sein. Der Rest soll sehr unterschiedliche, auch feine Korngrößen haben.
- Größe: Klein ist gut, größer ist besser. Zielwert: 2-3 m3, ideal sind 5 m3 (oder mehr). Steinhaufen müssen nicht hoch sein, die Steine in Bodennähe sind wichtig.
- Bereiche im Boden: Teile des Steinhaufens, die tief im Boden liegen, wie dies bei Steinlinsen der Fall ist, sind frostsicher und damit gute Winterquartiere.
- Kombihaufen: Steinhaufen, die mit Holz- und Sandbereichen kombiniert werden, bieten besonders viele Lebensraumnischen.
- Krautsaum: Der direkte Kontakt zu naturnahen Lebensräumen ist beim Steinhaufen besonders wichtig. Wo er nicht direkt an eine Wildhecke oder Ähnliches grenzt, sollte er von einem Krautsaum (Breite mind. 50 cm) umgeben sein.
- Alter: Bleibt der Steinhaufen mehrere Jahre ungestört, wird er stellenweise von Wildrosen oder Brombeerranken überwachsen. Dies ergibt für seine Bewohner einen zusätzlichen Schutz vor Fressfeinden.
- Anzahl: Mehrere Steinhaufen im Garten bieten ausreichend Versteckmöglichkeiten für Tierarten, die diese Kleinstruktur nutzen.
- Steinplatten: Auch einzelne große, flache Steinplatten, die auf dem Boden liegen, sind ideale Versteckmöglichkeiten und Aufwärmorte für Reptilien.
GESTALTUNG EINES NATURNAHEN GARTENS
Ein Garten ist ein Wohnraum im Freien. Er ist den Nutzungswünschen und dem Ästhetikempfinden der Bewohnenden entsprechend gestaltet. Meist ist er öffentlich einsehbar und wirkt deshalb wie ein Porträt der Personen, die sich darum kümmern. Es kommt ihm ein gewisser Repräsentationswert zu.
In Nachbarschaften, in denen es gesellschaftlich wichtig ist zu zeigen, dass hier ordentliche, fleißige Leute leben, kann ein naturnaher Garten mit Wildnisbereichen negativ bewertet werden. Will man in einem solchen Umfeld einen Garten für die Biodiversität anlegen, ist es besonders wichtig, darauf zu achten, dass der formale Rahmen (die Absicht) der gestalteten Flächen gut erkennbar bleibt.
Landschaftsarchitekten beschäftigen sich schon seit Mitte der 1990er-Jahre mit der Frage, welche Gestaltungsmethoden die Akzeptanz von naturnahen Lebensräumen im öffentlichen Raum verbessern könnte. Dabei stellte sich heraus: Erkennbare Absicht und Pflege sind es, welche den unordentlichen (extensiv gepflegten) in der Kombination mit ordentlichen (intensiv gepflegten) Bereichen mehr Akzeptanz verschaffen.
So werden naturnahe Lebensräume in meinem Garten «salonfähig»:
- Erkennbare Pflege: Es sollte immer erkennbar sein, dass eine Pflege stattfindet und sich jemand um die Fläche kümmert.
- Klare Begrenzungen: Präzise Führung von Wegen und Rabatten, Sauberkeitsstreifen entlang von Wiesenflächen und Gebäudebegrünung, die vor Türen und Fenstern zurückgestutzt wird, weisen auf bewusste Gestaltung und Ordnung hin.
- Kreativität: Bewusste Gestaltung der naturnahen Elemente: Spielen mit der Ästhetik von Totholz, von braunem Gras, dürren Stängeln, Steinen, …
- Blickfang: Der bewusste Einsatz einzelner attraktiver Zierpflanzen/Ziergehölze signalisiert, dass die Ästhetik wichtig ist.
- Intakte Infrastruktur: Gut erhaltene Gebäude, Gebäudefassaden und intakte Zäune «kompensieren» ein wildes Erscheinungsbild im Garten.
Im Folgenden möchten wir Ihnen hier zum Schluss ein paar Beispiele präsentieren, die zeigen, dass ein naturnaher Garten auch ein gepflegter Garten sein kann:
- Der ausgemähte Rand um die Wiese gibt einen Rahmen, der die Absicht zeigt (Brünnen, Bern)
- Im gemähten Rasen bleiben blühende Wildstaudenintarsien stehen (Brünnen, Bern)
- Gestalten mit Pflanzen: Weidenhaus in der Siedlung Oberfeld (Ostermundigen)
- Ein Holzzaun gibt dem hohen Gras Rahmen und Bedeutung (Parc du Désert, Lausanne)
- Eine Parzellengrenze wird statt mit einem Zaun durch eine durchlässige Weidenreihe markiert (Hegiwandweg, Zürich)
- Blumenwiese mit Schnittheckenelementen und ausgemähtem Weg (Brünnen, Bern)
Fotos: © Sabine Tschäppeler
Text: Gekürzt und adaptiert aus «Praxishandbuch Stadtnatur»
Sabine Tschäppeler, Biologin/Stadtökologin, leitet die Fachstelle Natur und Ökologie von Stadtgrün Bern, welche für die Erhaltung und Förderung der Biodiversität in der Stadt Bern zuständig ist. Sie ist zudem als Autorin, Gestalterin, Ausstellungsmacherin und Referentin tätig. Stadtgrün Bern hat für das Sensibilisierungsprojekt Natur braucht Stadt, in dessen Rahmen die erste Ausgabe dieses Buchs realisiert wurde, den Binding Preis für Biodiversität 2022 erhalten.
Andrea Haslinger, Geographin, arbeitet seit 20 Jahren im praktischen Naturschutz. Sie beschäftigt sich bei Pro Natura mit dem Management von Schutzgebieten und der Förderung von gefährdeten Tierarten. Mit ihrem Büro für Naturraumgestaltung berät sie Private, Immobilienbesitzer:innen und Gemeinden bei der ökologischen Aufwertung von Gärten und Wohnumgebungen und ist als Autorin und Dozentin tätig.