
Schnee und Eis: Fließen, formen, transportieren
Wann haben Sie das letzte Mal Schnee oder Eis gesehen, das nicht aus der Kühltruhe kommt? Zugegeben, wir hatten gerade drei Monate Sommer. Doch als Folge steigender Temperaturen verschwindet die weiße Pracht zunehmend aus unserer alltäglichen Erfahrungswelt. Wenn es im Winter schneit, ist das immer etwas ganz Besonderes. Dass Schnee und Eis nicht nur schön anzusehen, sondern auch wichtiger Bestandteil des Wasserkreislaufs der Erde sind, zeigen Jürg Alean und Michael Hambrey unter anderem in ihrer Neuerscheinung «Schnee uns Eis».
Hier im Folgenden geben wir Einblick in die Welt der Gletscher und zeigen, was man aus ihnen alles für Informationen herauslesen kann und welche Nutzen und Gefahren mit ihnen verbunden sind.
Wie entstehen Gletscher und wo sind sie zu finden?
Gletscher entstehen überall dort, wo über viele Jahre hinweg mehr Schnee fällt, als durch Abschmelzen oder Verdunsten verschwindet. Durch Metamorphose des abgelagerten Schnees entsteht zunächst Firn, aus den meist meterdicken Firnschichten mehrerer Jahre durch weitere Verdichtung und Zusammenwachsen benachbarter Eiskristalle schließlich Gletschereis. In den Alpen geschieht dies in den letzten Jahrzehnten je nach lokalen Bedingungen erst in Höhenlagen ab mindestens 3000 m ü. M., in den Polargebieten auch in viel geringerer Höhe, manchmal sogar fast auf Meereshöhe. Gletscher gibt es selbst in den Tropen und Subtropen, dort allerdings nur auf 5000 oder gar 6000 m hohen Bergen, wie zum Beispiel dem Kilimanjaro in Tansania, den Anden von Ecuador und Peru oder im Himalaya.

Zwischen den bogenförmigen Eisstrukturen auf dem Gates Glacier, Alaska, winden sich Schmelzwasserströme und leuchten türkisfarbige Schmelzwasserseen. Die Bogenstrukturen entstehen, weil das Eis in Gletschermitte schneller fließt als am Rand. Die wellenartigen Erhebungen entsprechen einer Eisbewegung während eines Jahres.
Wertvolle Informationen aus dem Eis
Ab Mitte des 20. Jahrhunderts gelang es Forschenden auf dem Eisschild Grönlands Bohrkerne aus mehreren Hundert Metern Tiefe an die Oberfläche zu holen. In solchen Eisproben lassen sich Jahresschichten ähnlich wie bei Baumringen abzählen. Mehr noch: Das alte Gletschereis enthält Luftblasen, die bei der Umwandlung von Firn zu Eis eingeschlossen wurden. Daraus lässt sich im Labor die genaue Zusammensetzung der Luft vor Jahrhunderten und Jahrtausenden bestimmen. Aus Bohrkernuntersuchungen wissen wir zum Beispiel, dass der CO2-Gehalt der Erdatmosphäre während der Eiszeiten deutlich tiefer war als in der Nacheiszeit, und dass sich Klimaveränderungen wie die globale Erwärmung am Ende der letzten Eiszeit erstaunlich schnell abgespielt hatten. Altes Gletschereis enthält somit wertvolle Informationen zum Klima vor vielen Jahrtausenden.
Im Rahmen des «European Project for Ice Coring in Antarctica» (EPICA) gelangen Bohrungen bis zum Grund des ostantarktischen Eisschilds in eine Tiefe von 3270 Metern. Für die Bohreinrichtung mussten riesige, fabrikhallenartige Hohlräume in den Firn gefräst werden, in denen die Techniker ihren monatelangen Arbeiten geschützt vor extremer Kälte und Winden nachgehen konnten. Die EPICA-Bohrkerne erlauben es, die Klimageschichte der Antarktis 800 000 Jahre zurück zu rekonstruieren, also über mehrere Eiszeit-Warmzeit-Zyklen hinweg (mehr dazu kann man in Kapitel 8 im Buch nachlesen).

Vom Akkumulationsgebiet im Zentrum des Mt. Blanc- Massivs fließt das Mer de Glace über 13 km weit nordwärts. Im flacheren Teil dieses Talgletschers sind abwechselnd hell-dunkle Bogenstrukturen, sogenannte Ogiven, zu erkennen. Sie entstehen im Eisfall hinten im Bild und veranschaulichen die jährliche Fließbewegung des Gletschers.
Bohrkerne aus hohen alpinen Firngebieten reichen zwar nicht so weit in die Vergangenheit zurück, liegen dafür aber näher bei neuzeitlichen Quellen von Schadstoffimmissionen aus Landwirtschaft, Industrie und Verkehr. Darin dokumentiert sind unter anderem wechselnde Bleikonzentrationen aus Autobenzin, Tritium von atmosphärischen Atombombentests während der 1950er-Jahre oder Pollen landwirtschaftlicher Nutzpflanzen. Allerdings gefährden steigende Temperaturen diese immens wertvollen Klimaarchive selbst in den höchsten Bergregionen der Welt. In den Firn eindringendes und wieder gefrierendes Schmelzwasser zerstört die Firnschichten und verunmöglicht eine sinnvolle Analyse, und zwar lange vor dem vollständigen Abschmelzen dieser hochgelegenen Gletscher. Deshalb werden im Rahmen des Projekts «Ice Memory» in den Alpen, Spitzbergen, mehreren asiatischen Hochgebirgen, den bolivianischen Anden und auf dem Kilimanjaro möglichst tiefreichende Eiskerne erbohrt und stets tiefgefroren in Kältelabors gebracht. Dort wird die eine Hälfte des Eises analysiert, während die andere Hälfte in die Ostantarktis transportiert und in Eiskavernen tiefgefroren gelagert wird. Sie sollen zukünftigen Generationen von Forschenden mit noch besseren Analysemethoden zur Verfügung stehen.

In einer Eishöhle unter dem Rand des Grossen Aletschgletschers lässt sich beobachten, wie das Gletschereis von rechts nach links über einen Felsvorsprung schrammt. Im Eis eingeschlossene Gesteinstrümmer wie derjenige vor der Person verstärken die Erosionswirkung des Gletschers.
Nutzen und Gefahren
Gletscher sind für uns Menschen in vielerlei Hinsicht nützlich. In Hochgebirgen wie den Alpen, Anden oder dem Himalaya fällt im Sommer reichlich Schmelzwasser an und vermag während Dürreperioden ausbleibende Niederschläge teilweise auszugleichen. Von alters her wird es zur Bewässerung und Produktionssteigerung auf Weiden oder Ackerflächen geleitet. Dazu mussten an oft steilen Berghängen, manchmal sogar in senkrecht abfallenden Felswänden, Kanäle installiert werden, deren Bau und Unterhalt in früheren Jahrhunderten nur dank eines ausgeklügelten Gemeinwerks zu bewältigen war. Im Alpenraum heißen sie je nach Region Bisses, Suonen oder Waale. Gletscher-wasser dient heute auch zur Stromproduktion aus Wasserkraft – zumindest solange, bis die Gletscher noch nicht ganz verschwunden sind. Mit Passstraßen oder Seilbahnen erschlossene Gletscher werden als Touristenattraktionen genutzt und ermöglichen das Skifahren bis weit in den Sommer hinein.
Dem Nutzen der Gletscher stehen mancherorts allerdings Gefahren gegenüber.
Eine Gletscherkatastrophe ganz anderer Art ereignete sich am 30. August 1965 während der Bauarbeiten für den Mattmark-Stausee im Walliser Saastal. Von der Zunge des Allalingletschers brachen plötzlich knapp 2 Mio. m3 Eis ab und stürzten auf eine Arbeitersiedlung. 88 Menschen, 56 davon italienischer Nationalität, wurden von den Eismassen begraben. Keiner der Verschütteten konnten lebend aus der bis zu 50 Metern dicken Schicht von Eistrümmern geborgen werden. Das Ereignis löste viel Betroffenheit aus und führt später zur intensivierten Erforschung potenziell gefährlicher Alpengletscher.
Eisabbrüche gehören wie Steinschlag zu den Risiken, denen Alpinisten auf bestimmten Routen ausgesetzt sind. In seltenen Fällen erfolgen Abbrüche auch von erstaunlich kleinen Gletschern. Am 3. Juli 2022 löste sich der untere Teil des Gipfelgletschers an der Punta Rocca (3309 m) in der Marmolata-Gruppe in den Dolomiten und stürzten über die normale Aufstiegsroute zur Punta Penia. Elf Alpinisten fanden den Tod, sieben weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Glaziologen vermuten, dass bei außerordentlich warmer Witterung Schmelzwasser in den Gletscher eingedrungen und möglicherweise Permafrost aufgetaut war, was die Haftreibung des Gletschers auf seinem Untergrund reduziert und den Abbruch letztlich ausgelöst hatte. Leider lassen sich solche Ereignisse bis heute nicht voraussagen und gehören zu den Restrisiken beim Bergsteigen in steilem, vergletschertem Gelände.
Text: adaptiert und gekürzt aus «Schnee und Eis»
Bilder: Jürg Alean und Michael Hambrey
Dr. Jürg Alean (rechts) studierte Geografie und doktorierte an der ETH Zürich in Glaziologie. Bis zu seiner Pensionierung war er Mittelschullehrer für Geografie. Zwischen 1976 und 2023 konnte er an vier Forschungsexpeditionen nach Axel Heiberg Island, Nunavut, Kanada, teilnehmen, die arktische Flora und Fauna hautnah kennenlernen und die dramatischen Veränderungen der Kryosphäre mitverfolgen. Er verfasste mehrere Bücher zu erdwissenschaftlichen Themen, unter anderem im Haupt Verlag. Zusammen mit Gleichgesinnten unterhält er den Bildungsserver SwissEduc.ch. Gelegentlich ist er auf der Schul- und Volkssternwarte Bülach nachtaktiv.
Prof. Michael Hambrey (links) studierte Geografie und Geologie an der University of Manchester, wo er auch in Glaziologie doktorierte. Nach Forschungspositionen an der ETH Zürich, der University of Cambridge und Lehrtätigkeit an der Liverpool John Moores University war er bis zur Emeritierung an der Aberystwyth University in Wales tätig. Von Königin Elizabeth II wurde er zweimal mit der «Polar Medal» ausgezeichnet und erhielt die «SCAR Medal for Excellence in Antarctic Research». Er hat zahlreiche Artikel und Lehrbücher über Glaziologie und Geologie verfasst.