
Die Kunst der Alchemie: Die Apparaturen der Alchemie
Was ist Alchemie? Wer diese Frage stellt, muss mit einem kurzen Zögern des Befragten rechnen. Die einfachste Antwort wäre, dass Alchemie der Vorläufer der Chemie ist. Sicherlich lässt sich ihre Geschichte betrachten (und genau das wurde auch schon getan), indem man sie auf dem Zeitstrahl der Entwicklung der Wissenschaften verortet. Doch wie sagte Victor Frankenstein so treffend: «Ein Mensch würde nur eine sehr traurige Rolle spielen, wenn er sich ganz einseitig auf Chemie verlegen wollte.»
Es gibt noch einen anderen Grund zu zögern: Bei der Recherche für ein Thema kommt es nicht selten vor, dass es einem plötzlich überall begegnet und man alles für relevant hält. Das Problem mit der Alchemie ist, dass sie tatsächlich überall ist. Sie ist so quecksilbrig wie eine ihrer Hauptzutaten, und sich konzentriert mit dem Thema zu beschäftigen, kann Forschende in den Wahnsinn treiben. Denn Alchemie umfasst nichts weniger als die Geschichte der Menschheit und ihre Versuche zu enträtseln, wie die Welt – und alles darin – entstanden ist.
Das Versprechen, mithilfe der Alchemie aus der Natur gewonnene einfache Materie in Gold zu verwandeln oder Unsterblichkeit zu erlangen, faszinierte Denker und Experimentatoren jahrhundertelang. Alchemie schien den Schlüssel zu den Geheimnissen der Schöpfung in sich zu tragen.
David Brafmann geht in seinem Buch «Die Kunst der Alchemie» der weltweiten Geschichte der Alchemie von ihren Anfängen im alten Ägypten über ihr goldenes Zeitalter im europäischen Mittelalter bis hin zur Moderne nach und macht deutlich, dass wir es hier mit ganz großer Kunst zu tun haben/hatten.
In diesem Magazinbeitrag schauen wir uns zwei Apparaturen der Alchemie etwas genauer an und ergründen, wie sie den Alchemisten helfen sollten, die «Seele» der Materie offenzulegen. Unter anderem erfahren wir dabei, was die Begriffe Kajal und Alkohol gemeinsam haben.
Extraktion der Essenz – die Apparaturen der Alchemie
Die Destillation war für die Forschenden eine Brücke zwischen der materiellen und der spirituellen Welt. Indem sie Substanzen diesem Prozess unterzogen, konnten sie ihre grundlegenden Eigenschaften isolieren und identifizieren. Materie von Verunreinigungen zu befreien, war gleichbedeutend mit dem Freilegen ihrer reinen Essenz, analog zur Offenlegung ihrer «Seele». Zosimos (mehr dazu im Buch auf S. 22–23) hatte das bereits im 4. Jahrhundert festgestellt, inspiriert durch den Erfindergeist von Maria der Jüdin im 1. Jahrhundert. Ihr Bain-Marie war der Prototyp für das wichtigste Gerät der Destillation, den Alembik oder Destillierhelm. Der deckelartige Aufsatz schloss das Destilliergefäß luftdicht ab und fing den erhitzten Quecksilberdampf auf – daher übrigens die Bezeichnung «hermetisch verschlossen». Der Begriff Alembik leitet sich von al-anbīq ab, der arabischen Transliteration des griechischen ambix («doppelläufig»). Das Gerät bestand im Wesentlichen aus einem Deckel mit einem Ausguss, mit dem man einen kontrollierten Kreislauf zwischen Verdampfung und Kondensation aufrechterhielt. In verschiedenen Abwandlungen gehört er heute noch zu den üblichen Destillierapparaturen. Bereits ab der Spätantike bezeichnete der lateinische Begriff destillare («herabtropfen») die Vorgänge der Verdampfung und Kondensation. Ebenfalls aus der Antike stammte die theosophische Interpretation des Verdampfens und Kondensierens: das Trennen des Geistes vom Körper einer Substanz. Alchemistische Philosophen erweiterten den Bedeutungsumfang und leiteten daraus ganzheitliche Theorien über die Verbindung zwischen der Natur und der Seele ab. Der Vorgang, durch Destillieren einer natürlichen Substanz die reine Essenz zu entziehen und ihren Geist in eine Flasche zu sperren, regte auch die künstlerische Fantasie an. Neben technischen Darstellungen finden sich in Büchern vielfältige allegorische Bilder, die von großer und teils bizarrer Einbildungskraft zeugen.

Destillerie für das Wasser des Lebens (aqua vitae) in Philippus Ulstadius, Coelum Philosophorum Seu De Secretis Naturae (Himmel der Philosophen, Heimlichkeit der Naturen genannt) (Straßburg, 1528) Philippus Ulstadius’ Werk war ein praktischer Leitfaden zur Erzeugung der Quintessenz. Dieses «fünfte Element» wurde sowohl für die verborgene Kraft gehalten, die alle Materie zusammenhält, als auch für die heimliche belebende Macht, die die Kräfte der Natur antreibt. © Getty Research Institute
Formen des Ofens – Der Athanor
Das Herz des alchemistischen Labors und die Energiequelle für die chemische Synthese war der Ofen, Athanor genannt. In der Philologie wurde der Begriff lange Zeit fälschlicherweise wegen des immer brennenden Feuers auf das griechische athanatos («unsterblich») zurückgeführt. Tatsächlich leitet sich Athanor aber vom arabischen Wort für «Ofen» ab: at-tannūr. Die Illustrationen in einem kaum bekannten Manuskript aus Neapel zur Zeit des Barock zeigen das gesamte Spektrum der Allegorie: von schnörkellosen Abbildungen handwerklicher Praktiken über Porträts legendärer alchemistischer Gelehrter wie Aristoteles, Thomas von Aquin und Ramon Llull bis hin zu exotischen, fantastischen Wesen. Immer wieder finden sich abgedroschene Aphorismen, schlecht getarnt als alchemistische «Geheimnisse», neben wichtigtuerischen Erklärungen, dass die Betrachtung der Bilder letztlich das Wesen der Natur enthüllen werde. Die Schriften des Neapolitaners Claudio de Domenico Celentano di Valle Nove sind zwar auf 1606 datiert, zeigen aber kaum Weiterentwicklungen in der alchemistischen und handwerklichen Tradition der vorangegangenen Jahrhunderte. Es gibt so gut wie keine Belege für die praktische Laborerfahrung des Autors. Was diesen «Alchemisten» wohl vor allem faszinierte, ist die Welt der Bilder von Mythen, Monstern und anthropomorphen Gestalten, die die Geheimnisse und den Geist der Wissenschaft versinnbildlichen. Mehr als ein Jahrhundert alchemistischer Veröffentlichungen trennen Celentanos Manuskript
von Hieronymus Braunschweigs Kleinem Destillierbuch (Straßburg?, 1500), dem frühesten gedruckten Buch über die Kunst der Destillation. In zahlreichen Holzschnitten sind die technischen Apparaturen dargestellt, begleitet von Anleitungen zu ihrem Betrieb. Wie beliebt das Buch war, bezeugen nicht nur die zahlreichen Nachdrucke, sondern auch die ehrlichste Form von Kompliment, die ein Kollege machen kann: Philippus Ulstadius übernahm fast den gesamten Inhalt in sein Werk Coelum Philosophorum von 1528.
Anstelle der österlichen Jungfrau mit Kolben in den Händen, aus denen dekorative, an Destillierapparate erinnernde Formen entweichen, gibt «Formen des Ofens» – der einleitende Holzschnitt in Ulstadius’ Buch – die Gerätschaften detailliert und mit Beschriftung wieder. Die Technik wird künstlerisch verziert und die Handwerker an der «Maschine» wirken in ihrer Pose äußerst vornehm. Die Szene im Inneren der Abbildung trägt den Titel Distillatorium ad aquam vitae («Destillerie für das Wasser des Lebens»). Aqua vitae ist nichts anderes als Aquavit oder Branntwein. Die hart arbeitenden Handwerker destillieren also Alkohol. Dass sich die Alchemie allmählich zu einer hochmodernen Technologie weiterentwickelte, zeigt sich auch in den stilisierten Gestaltungen ihrer Geräte. Man baute überdimensionale Mammut-Athanoren, um zu zeigen, was sich mit Macht und Wohlstand erreichen ließ. Einige Öfen hatten das furchteinflößende Erscheinungsbild einer mittelalterlichen Festung, andere
entsprangen der wilden Fantasie der Wissenschaften und muteten geradezu futuristisch an. Ein Entwurf in einer Enzyklopädie der Kräutermedizin, mit Reihen über Reihen von Alembiks und Gefäßen, wirkt wie eine Anspielung auf die Statue der vielbrüstigen Artemis von Ephesos. Zurück im barocken Neapel, finden wir in einem Stich im 1624 veröffentlichten Dell’elixir vitae («Über das Elixier des Lebens») des neapolitanischen Dominikaners Donato d’Eremita eine Gruppe dominikanischer Mönche beim Destillieren. Alkohol wurde oft als die Kernsubstanz der Schöpfung betrachtet, also als das immaterielle fünfte Element (auf Latein quinta essentia). Schließlich schien er ja auch die anderen vier zu verkörpern, gar zu übersteigen. Als «Geist» enthält er das Element der Luft, doch er brennt wie Feuer, ist flüssig wie Wasser und enthält noch Reste von Getreide aus der Erde. Das Wort «Alkohol» ist eine Ableitung aus
dem arabischen al-kuhl oder Kajal, einem schwarzen medizinischen Pulver, das seit der Antike als Augenschminke verwendet wurde. Der Herstellungsprozess von Kajal – wiederholte Verdampfung und Kondensation – wurde mit einigen Anpassungen für die Destillation von Annibal Barlet, Le vray et methodique cours de la physique resolutive vulgairement dite chymie («Das wahre und methodische Lehrbuch über die löslichen Substanzen, gemeinhin Chymie genannt»)(Paris, 1653) Pietro Mattioli, Commentarii in sex libros Pedacii Dioscoridis Anazarbei de medica materia («Kommentar in sechs Büchern zu Dioscorides’ De materia medica») (Venedig, 1568) Aquavit übernommen und der Begriff al-kuhl setzte sich schließlich als Bezeichnung für den Alkohol durch.
Die stilisierten Darstellungen der Apparaturen für die Zubereitung dieses elixir vitae spielen in Donato d’Eremitas Buch offenbar die Hauptrolle. Statt der naturgetreuen Abbildung technischer Details wie in Ustadius’ Werk entschied sich Donato für übertrieben verlängerte Phiolen, Röhren und Flaschenhälse und macht die virtuose Formbarkeit von Glas zu seinem Fetisch. In dem Zierrahmen rund um die Laborszene finden sich Alembiks als dekorative Elemente. Die schlanke Eleganz der Apparatur vermittelt eher den Eindruck eines Bühnenbildes als den eines wissenschaftlichen Labors. Vielleicht war Donatos elegantes Buch eher als Werbung gedacht, um den Grappa seines Klosters besser zu vermarkten. Celentano di Valle Nove und Fra Donato d’Emerita waren im frühen 17. Jahrhundert in Neapel aktiv und ungefähr Zeitgenossen. Sosehr sich ihre Herangehensweisen an wissenschaftliche Illustrationen auch unterscheiden, so gehen dennoch beide auf einen Neapolitaner zurück, der zu ihren Lebzeiten eine lebende Ikone war: der geniale Naturphilosoph und Wissenschaftsrebell
Giambattista della Porta (1535–1615). Dieser verbrachte sein Leben damit, die
Beziehung zwischen Vorgängen im Labor und in der Natur zu erforschen. Er war Gründer und graue Eminenz der Accademia degli segreti und legte wie ar-Rāzī viel Wert auf Empirie – die Beobachtung der äußeren Erscheinung – als Schlüssel zum Verständnis der essenziellen Natur der Dinge. Damit definierte er einen Forschungsstandard in Europa, der zum Fundament der Wissenschaft wurde. Gleichzeitig verwies er auf die Mehrdeutigkeit der Wahrnehmung von Realität und Illusion. In seinen früheren Werken De humana physiognomonia («Über die menschliche Physiognomie») und De phytognomica («Über die Physiognomie der Pflanzen») untersuchte della Porta, wie sich über die äußere Erscheinung von Tieren, Menschen und Pflanzen der Charakter der Seele im Inneren bestimmen ließ. In seinem letzten Buch De distillatione («Über die Destillation») wandte er seine Aufmerksamkeit dem Vergleich von Form und Funktion alchemistischer Apparaturen mit organischen Lebensformen zu: Beispielsweise zog er Parallelen zwischen den Formen und Funktionen verschiedener alchemistischer Gefäße und siamesischen Zwillingen, einer Hydra, einer Schlange und anderen Tieren. Die Laborgeräte lieferten damit den Beweis dafür, dass die Kunst der Alchemie die Natur imitierte.

© Getty Research Institute
Text: adaptiert und gekürzt aus «Die Kunst der Alchemie»

Courtesy Larry Bercow Studio
David Brafman hat an der Duke University in Durham in Altphilologie doktoriert und ist seit 2002 Kurator für seltene Bücher am Getty Research Institut in Los Angeles.