
HauptAutor Heinrich Haller: Der Kolkrabe – Totenvogel, Götterbote, tierisches Genie
Kolkraben sind vielseitig, weit verbreitet und verfügen über ein hoch entwickeltes Gehirn. Auch ihr komplexes Sozialleben erinnert an das Wesen von uns Menschen. Heinrich Haller dokumentiert die großen schwarzen Vögel in «Der Kolkrabe – Totenvogel, Götterbote, tierisches Genie» in Wort und Bild und eröffnet überdies Einblick in das Phänomen Leben und damit in unsere eigene Existenz.
Wir freuen uns sehr darüber, dass das bibliophile Buch in so kurzer Zeit bereits in zweiter Auflage erhältlich ist. Aus diesem Grund wollen wir das Interview mit dem Autor, indem er verrät, woher seine Faszination für die Kolkraben kommt, erneut mit Ihnen teilen:
Woher kommt Ihre Faszination für die Kolkraben? Und wie kam es dazu, diesen Vögeln ein Buch zu widmen?
Kolkraben haben mich ein Leben lang bei verschiedenen wildbiologischen Projekten begleitet: Bei meinen Arbeiten am Uhu, Steinadler und Luchs, bei den Rothirschen und im Umfeld von Wilderern waren sie stets präsent. Dabei spürte ich ihr agiles Wesen, ihre Findigkeit, ihre geistige Regsamkeit. Aber auch die Schwarzfärbung, ihre herbe Schönheit und ihre imponierende Körpergröße haben mich in den Bann gezogen. Kolkraben und anderen Rabenvögeln wird immer noch mit Vorurteilen begegnet. Das vorliegende Buch soll Aufklärung leisten und insbesondere durch die Fotos füllt es eine Lücke.
Bernd Heinrich schrieb, bezogen auf sein Gebiet im Nordosten der USA, in dem er Kolkraben untersuchte: «Raben sind scheuer und wachsamer und haben bessere Augen als irgendein anderes wild lebendes Tier, das ich kenne.» Wie lässt sich dieser Umstand erklären?
In Gesellschaften ohne enge Verbindung zur Natur, also in unseren Bevölkerungskreisen, sind schwarze Rabenvögel während langer Zeit stigmatisiert worden. Als Aasvögel wurden sie mit dem Tod in Verbindung gebracht und so zum Symbol für Unheil und Verderben. Da erstaunt es nicht, das der Kolkrabe und seine Verwandten mit allen Mitteln verfolgt wurden. Dieser Vernichtungsfeldzug hat die Vögel im Bestand bedrängt. Überlebt haben nur die vorsichtigen Individuen. So sind sie grundsätzlich scheu geworden, mit einer entsprechend großen Fluchtdistanz.
Viele Eigenschaften, die wir Menschen aufweisen, lassen sich auch bei Kolkraben nachweisen. Welche sind das?
Es gibt in der Tat viele Parallelen: Kolkraben sind ebenso wie wir Menschen Allesesser, beide haben ein hoch entwickeltes Gehirn, eine vielfältige, variable Stimme und ein komplexes Sozialverhalten. Ähnlich ist auch die hohe Anpassungsfähigkeit und die weite Verbreitung.
Welche Bedeutung haben soziale Beziehungen zur eigenen als auch zu anderen Arten für die Kolkraben?
Kolkraben haben sich im Verbund mit großen Karnivoren (Fleischessern) entwickelt, eine sogenannte Ko-Evolution durchlaufen – in erster Linie mit dem Wolf, dem wirkungsvollsten Beutegreifer in höheren nördlichen Breiten. Kolkraben profitieren von den Überresten gerissener Tiere und können sich nahe an Wölfe und andere wehrhafte Tiere heranwagen. Dieses Zusammenleben mit potenziell gefährlichen Konkurrenten erfordert allerdings Vorsicht. Die Situation muss richtig eingeschätzt werden können und dies verlangt nach geistigen Fähigkeiten. Entsprechendes gilt auch für die Koexistenz mit Menschen. Falls Nahrung temporär im Überfluss vorhanden ist, betreiben viele Rabenvögel Vorratshaltung. Allerdings besteht stets die Gefahr, dass Nahrungsdepots geplündert werden, speziell durch fremde Artgenossen. Die cleveren Kolkraben haben jedoch Taktiken entwickelt, um dies zu verhindern.
Trotz der oben erwähnten, erhöhten Wachsamkeit der Kolkraben ist es Ihnen gelungen, eine Beziehung zu einem Kolkrabenpaar, Corvun und Rabea, aufzubauen. Wie kam es dazu?
Es fiel mir auf einer häufig begangenen Bergwanderroute im Engadin auf, dass ein Kolkrabenpaar mit noch nicht selbstständigen Jungvögeln eine geringere Fluchtdistanz zeigte als üblich. Die Vögel und insbesondere die Jungen profitierten dort von liegen gebliebenen Proviantresten. Da habe ich eingehakt, war immer wieder in diesem Gebiet präsent und habe das Verhalten von Touristinnen und Touristen nachgeahmt. So hat sich eine gegenseitige, über die Jahre enger gewordene Beziehung aufgebaut. Alsbald erkannte mich dieses Kolkrabenpaar persönlich, so dass ich nicht mehr stets dieselben Kleider tragen musste.
Kolkraben sind oft in kargen Lebensräumen anzutreffen. Kommt den Vögeln ihre Intelligenz gerade da gelegen?
Kolkraben sind weit verbreitet und besiedeln seit einigen Jahren wieder die gesamte Schweiz. Sie leben bevorzugt in produktiven, nahrungsreichen Lebensräumen, so im vielfältig strukturierten Kulturland mit anstehenden Brutfelsen. Die Vögel sind aber auch im meist kargen Hochgebirge anzutreffen. Dabei ist wichtig zu wissen, dass sie extrem mobil sind und bei guten Flugbedingungen in wenigen Minuten große Höhendifferenzen überwinden können. Grundsätzlich helfen aber auch die hohen kognitiven (geistigen) Fähigkeiten, damit sich die Raben selbst unter angespannten Ernährungsbedingungen behaupten können.
Nach dem neuesten Schweizer Brutvogelatlas ist das Vorkommen des Kolkraben in höheren Lagen seit einigen Jahren tendenziell rückläufig. Woran liegt das? Was könnte dagegen unternommen werden?
Der erwähnte Bestandsrückgang ist nicht wirklich verstanden. Er könnte damit zusammenhängen, dass die Wintersterblichkeit von wild lebenden Huftieren in den letzten Jahren zurückgegangen ist. Dazu kommt, dass inzwischen die letzten Mülldeponien saniert wurden und deshalb organische Abfälle für Kolkraben und andere Tiere nicht mehr im gleichen Maß verfügbar sind. Früher hatten sich dort vorab nichtbrütende Rabenvögel in großer Zahl eingefunden. Solche fast unbegrenzten Nahrungsquellen kommen allerdings in der Natur kaum vor. Ihr Verschwinden ist also zu akzeptieren, zumal Kolkraben bei uns auch ohne sie gut leben können, wenn auch in angepasster Zahl. Maßnahmen sind folglich unnötig, mit einer Ausnahme: Dass der Kolkrabe in der Schweiz noch immer jagdbar ist, das sehe ich nicht ein.
Und zum Schluss: Haben Sie ein besonderes Erlebnis mit einem Kolkraben gehabt, das Sie geprägt hat und das Sie hier mit uns teilen möchten?
Es waren viele Erlebnisse, die zu meiner engen Verbindung zu Kolkraben beigetragen haben. Spektakulär war, dass mich diese Aasvögel auf Überreste von Wildererbeuten aufmerksam gemacht haben: So am 23. Oktober 2005 knapp jenseits der Landesgrenze im benachbarten Italien: Ein Rabenpaar flog vor mir aus einer bewaldeten Runse auf und verschwand unauffällig, ohne die sonst üblichen Rufe. Diese Situation machte mich stutzig; ich suchte das Gelände ab und fand die Überreste einer illegal erlegten Hirschkuh. Die Beute war durch die Frevler und durch verschiedene Tiere bereits weitgehend genutzt worden. Unter dieser Voraussetzung war es typisch, dass sich die Raben unauffällig verhielten, um nicht konkurrierende Artgenossen auf das verbliebene knappe Nahrungsangebot aufmerksam zu machen.
Fotos: © Heinrich Haller
Heinrich Haller ist Biologe und hat in den Alpen Studien an diversen großen Wildtierarten sowie zum Thema Wilderei durchgeführt. Dabei kam er immer wieder in Kontakt mit Kolkraben, die so zu Wegbegleitern wurden. Er war von 1996 bis zu seiner Pensionierung 2019 Direktor des Schweizerischen Nationalparks und lehrte als außerplanmäßiger Professor Gebirgsökologie an der Universität Göttingen.